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"Sie sprechen aber gut deutsch"

Text: Leica
An seinen fünften Geburtstag kann sich Hamid noch gut erinnern. „Das war ein Scheißtag,“ sagt er. Es war der 19. September 1980, und alle warteten darauf, dass der Krieg beginnt. Alle hatten Angst, keiner feierte mit ihm. Drei Tage später gingen die ersten irakischen Bomben auf Teheran nieder.

So ging es die nächsten Jahre weiter. Dabei hatten sie es noch gut, sagt er: Sie wohnten im relativ sicheren Norden der Stadt, ganz nah am Berg Towchal. Da flogen die Bomber kaum hin, weil es zu schwierig war, vor dem Berg rechtzeitig abzudrehen. Doch einmal ging doch eine Bombe nur wenige hundert Meter vor dem Mehrfamilienhaus nieder, in Hamid mit seiner Familie wohnte. Seitdem war er dafür zuständig, bei Bombenalarm in der Nacht seinen kleinen Bruder aus der Wiege zu reißen und mit ihm in den Bunker zu rennen. Da war Hamid sechs. Heute noch fährt er nachts schweißgebadet aus dem Schlaf, wenn es gewittert, weil er von den Bomben auf Teheran träumt.

Im Sommer 1987 bot die Regierung Ferienlager für die Kinder an, zur Erholung vom Krieg, hieß es. Hamids Eltern schickten ihn mit. Als er zum Ende des Sommers wiederkam, fragten seine Eltern, wie es war, und er sagte: „Das war toll, ich kann jetzt auch mit einem Maschinengewehr schießen.“ Als seine Eltern daraufhin in Panik gerieten, verstand er nicht, warum: Er konnte sie doch jetzt beschützen. Kurz vor seinem zwölften Geburtstag kam sein Einberufungsbescheid. Dabei lag ein kleiner Schlüssel aus Plastik, mit Goldfarbe überzogen. Damit sollten sich die Kindersoldaten nach dem Krieg die Himmelstür aufschließen. Denn dass sie zurückkommen würden, damit rechnete man nicht. Die kleinen Jungen ließ man nämlich über Felder rennen, die man für vermint hielt. Zuerst hatte man Esel dafür genommen, doch die nahmen sofort Reißaus, wenn sie die Todesschreie ihrer Artgenossen hörten. Aber kleinen Jungen, die Helden sein wollen, denen kann man viel erzählen.

Den Eltern war klar: Hamid muss raus aus dem Iran. Er hatte Verwandte auf der ganzen Welt, unter anderem einen Onkel in Stockholm. Auf dem Flug dorthin musste er in Frankfurt umsteigen. In Frankfurt wohnte ein Freund der Familie, den sollte Hamid dann noch für eine Woche besuchen, wo er schon mal da war. Vielleicht wussten seine Eltern ja da schon, was kommen würde.

Am 18. Dezember 1987 stand Hamid auf dem Frankfurter Flughafen, der Freund der Eltern holte ihn ab. Eine Woche lang lebte er bei dem freundlichen Mann, der ihn mit ins Main-Taunus-Zentrum nahm und an den Main. Dann riefen die Eltern an und erklärten, dass Hamid nicht nach Stockholm könne, weil man sich mit dem Onkel heillos zerstritten hatte. Der Freund der Familie erklärte ihm: „Sieh mal, wenn du jetzt bei mir bleibst, und aus dir wird nichts, dann wird das auf ewig meine Schuld sein. Wenn aber aus dir etwas Gutes wird, dann stehen deine Eltern in meiner Schuld, und das wollen sie auch nicht.“

Hamid kam in ein katholisches Kinderheim. Die Pater dort nahmen ihn freundlich auf, wie schon einige andere iranische Jungen zu dieser Zeit. Schon kurz nach seiner Ankunft sagte Hamid seinen ersten ganzen Satz auf deutsch: „Da ist kein Papier auf dem Klo.“ Am Abend gab es Eisbein mit Kraut – das erste Mal in seinem Leben, dass er Schweinefleisch aß. Er und die anderen Iraner wurden eine kleine Familie aus verlorenen Söhnen – die meisten von ihnen sind es bis heute.

Nachdem er ein Jahr lang auf die heiminterne Hauptschule gegangen war, schickten ihn die Pater auf die Realschule im nächsten Ort. Daraufhin ärgerten ihn die anderen Kinder. Er bekam eine Sonderbehandlung, das behagte ihnen nicht.

Mit 14 brachte er den anderen Jungs bei, wie man Zigaretten auf Lunge raucht. Auf dem Weg von der Schule kaufte er sich regelmäßig einen Sixpack. Bevor er das Bier trank, machte er erstmal seine Hausaufgaben. In dieser Zeit war er kurz davor, aus dem Heim zu fliegen, weil einige Erzieher meinten, er wäre so eine Art Rädelsführer. Doch der Zivi legte ein gutes Wort für ihn ein.

Nach dem Realschulabschluss wechselte er aufs Gymnasium. Nicht so leicht, denn er hatte ja nur Englisch als Fremdsprache gehabt, und das auch nur zwei Jahre lang – schließlich hatte er erstmal deutsch lernen sollen. In Deutsch und Englisch hagelte es regelmäßig Noten unterm Strich, mehrfach rieten Lehrer den Heimerziehern, ihn von der Schule zu nehmen. Sein Abi machte er 1996 mit dem Notendurchschnitt 3,1. Zu schlecht für ein Studium in Zahnmedizin.

Er bekam einen Ausbildungsplatz als Zahntechniker. Ein Jahr später wagte er es dann doch, sich bei der Zentralen Vergabestelle um einen Studienplatz zu bewerben. Wenige Wochen später: die Absage. Als er sich gerade damit abgefunden hatte, kam noch ein Brief: Er war von einer Uni direkt zum Auswahlgespräch eingeladen worden, denn wenige Studienplätze in Numerus-Clausus-Fächern besetzen die Unis mit Wunschkandidaten, die zuerst ausgelost und dann einzeln angehört werden.

Hamid betrat den Saal, in dem die Professoren warteten, mit dem Motorradhelm unter dem Arm und verwuscheltem Haar. „Aaah, noch ein Motorradfahrer,“ begrüßte ihn einer der Professoren und sie tauschten sich kurz über die besten Motorradstrecken in der Umgebung aus. Nach dem Pflichtteil á la „Warum wollen sie Zahnarzt werden?“ fragte der Professor, wie es Hamid nach Deutschland verschlagen habe. Hamid erzählte vom Krieg, dem Kinderheim, der Hauptschule und dem Englischlehrer vom Gymnasium. Als er fertig war, sagte der Professor erst nichts, und dann: „Ich habe einen Sohn, und ich wünschte, der wäre nur halb so selbstständig wie Sie.“ Zwei Wochen später kam dann noch ein Brief von der Uni, Hamid brach seine Lehre ab und begann zu studieren.

Nach dem dritten Semester stand das Vorphysikum an. Unter anderem gibt es eine Prüfung in Prothetik. Für Hamid, der ja Zahntechnik gelernt hatte, ein Leichtes. Für seinen Tischnachbarn nicht. Der Kommilitone verzweifelte, weil die Brücke, die er anfertigen sollte, nicht gelang – zwei linke Hände, aber der Vater war halt auch Zahnarzt. Als Hamid seine Brücke fertig hatte und die Assistenten Kaffee trinken waren, fertigte er auch noch die Arbeit seines Kommilitonen an. Die Brücke, die Hamid selbst zur Prüfung einreichte, war nahezu perfekt. Diejenige, die er für den Kommilitonen gemacht hatte, war ganz gut. Sein Kommilitone bekam eine eins minus, Hamid eine vier. Auf seine Frage, warum er eine vier bekommen hatte, sagte der Prüfer: „Das muss ich nicht begründen.“ Dass bestimmte Prüfer gerade in Medizin Ausländer absichtlich benachteiligen, ist zwar bekannt, lässt sich aber nur selten beweisen. Und Hamid konnte schlicht gar nichts tun, denn er wollte ja nicht, dass sein Kommilitone und er wegen Täuschung von der Uni fliegen. Deshalb fuhr er mit Wut im Bauch und einer vier in seinem Paradefach nach Hause.



Am 10. September 2001 beantragte Hamid die deutsche Staatsbürgerschaft. Es konnte ja nicht ahnen, was tags darauf passieren würde – sonst hätte er es bestimmt geschickter angestellt. Jedenfalls dauerte es mit Juli 2003, bis er sie in Empfang nehmen konnte. „Sie können sich ja sicher vorstellen, dass wir Sie etwas genauer prüfen,“ sagte die Dame vom Amt, immer wenn er dort anrief. Er hatte es auch schon nicht verstanden, dass seine Uni seine Daten für die Rasterfahndung freigegeben hatte. Aber er hatte bis dahin längst gelernt, dass die Deutschen sich zwar selbst recht gerne über die Ungerechtigkeit der Welt beschweren, dass sie das aber von „Südländern“ weder erwarten noch wünschen.

Heute ist Hamid Oralchirurg, und wenn ein Patient zu ihm sagt: „Sie sprechen aber gut deutsch“, erwidert er: „Danke. Sie auch.“

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