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„Die bayerische Mentalität ist mit der russischen Seele kompatibel“

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Zweimal pro Woche macht Veronika einen Ausflug in eine Welt, die sie längst hinter sich gelassen hat. Auf den ersten Blick sieht das Gebäude am Münchner Westpark aus wie ein normales Mietshaus, doch im Flur hängen Zettel, die auf Russisch erläutern, wie man in Deutschland lüftet: „Fenster nur kurz aufreißen. Wenn es zu warm im Zimmer ist, die Heizkörper runterdrehen, nicht die Fenster öffnen.“ Hier leben Menschen, die aus Ländern kommen, in denen Heizöl keine Mangelware ist – Thermostate hingegen schon. Es sind Russlanddeutsche und jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Die 26-jährige Veronika kommt her, um mit den Kindern Hausaufgaben zu machen und den Jugendlichen ehrenamtliche „Paten“ zu vermitteln – Deutsche, die ihnen in der Schule oder bei der Lehrstellensuche helfen. Vor sechs Jahren hat Veronika selbst noch in so einem Wohnheim gelebt. Als 19-Jährige war sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus Kasachstan gekommen. Lange hatte die deutschstämmige Familie vom Leben in der Bundesrepublik geträumt. Als es so weit war, landeten sie zu viert in einem winzigen Zimmer in einer bayerischen Kleinstadt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Die Zeit im Übergangswohnheim war schrecklich“, erinnert sich Veronika heute. Sie ist zierlich, hat rötliche Haare und in ihrer Jeans und dem knallroten Kapuzenpulli sieht sie aus wie die meisten deutschen Studentinnen. Sie schreibt Magisterarbeit in Theaterwissenschaft und wenn man sie reden hört, würde man nie auf die Idee kommen, dass sie in Zentralasien aufgewachsen ist. Sie spricht wesentlich akzentfreier Deutsch als der bayerische Polizist, den sie heute ins Wohnheim mitgebracht hat. Veronika hat Polizeihauptmeister Winklmeier eingeladen, damit die Jugendlichen und ihre Eltern Fragen loswerden können. Sie weiß noch, wie unangenehm es war, neu zu sein in einem Land, in dem es eine Million Regeln gibt, die man allesamt nicht kennt. Aus Slawa wird Wilhelm 20 Leute sitzen in Hausschuhen im Aufenthaltsraum. Winklmeier erklärt, dass in Deutschland Rauchen erst ab 18 erlaubt ist und was es mit dem neuen Waffengesetz auf sich hat. In der zweiten Reihe lümmelt Oliver. Er ist 17 und hieß bis vor einem Jahr noch Oleg. Dann kam er mit seinen Eltern nach Deutschland und wurde auf dem Standesamt umbenannt, was ziemlich üblich ist: Aus Fjodor wird Friedrich und aus Slawa Wilhelm. Das „Eindeutschen“ der Namen ist keine Pflicht, aber die Standesbeamten legen es den Neuankömmlingen nahe. Sie sagen, dass mit deutschen Vornamen die Suche nach einer Lehrstelle leichter wird. Bei Oliver hat es dazu geführt, dass er sich im Jugendclub jede Woche anders nennt – mal besteht er auf „Alex“, dann „Ole“, dann wieder „Oliver“. Aber die vielen deutschen Vornamen ändern nichts daran, dass Oliver manche deutschen Gesetze für übertrieben hält. Er meldet sich und fragt mit breitem Grinsen, ob er einen Waffenschein für seine Wasserpistole brauche. Winklmeier verzieht keine Miene und erklärt: „Die ist zulassungsfrei, aber wenn du Schnaps reinfüllen willst, musst du über 18 sein.“ Oliver sagt hinterher, dass zwar die Regeln in Deutschland spießig sind, aber dafür die Polizisten lustig. Für Veronika ist das schon ein kleiner Erfolg. „Wenn du neu in einem Land bist, ist jede Begegnung prägend“, sagt sie auf der Rückfahrt in der U-Bahn. Sie sagt, dass sie Glück hatte mit den ersten Deutschen, die sie traf, und dass sie deshalb gern ein bisschen helfen will, damit andere Neuankömmlinge auch einen guten Einstieg haben. Das klingt bescheiden, bedeutet aber viel Arbeit: Veronika engagiert sich nicht nur im Übergangswohnheim, sondern leitet auch ehrenamtlich eine Theatergruppe. Obwohl dort alle Mitspieler Russisch-Muttersprachler sind, spielen sie auf Deutsch. „Das ist ein prima Training für die, die wenig Deutsch sprechen“, sagt Veronika, „ein Mädchen aus der Gruppe hat mir erzählt, dass sie die Sätze, die sie für die Stücke auswendig lernt, danach im Alltag eingesetzt.“ Das Theater habe ihr geholfen, ohne Angst im deutschen Umfeld den Mund aufzumachen. Treffen bei der Kyrilliza Veronika ist mit ihrer Freundin Mascha verabredet. Was für die meisten Münchner der Fischbrunnen ist, ist für viele junge Russen „die Kyrilliza“, die kyrillische Inschrift des McDonalds am Stachus – hier wartet man aufeinander, wenn man sich in der Innenstadt trifft. Die 30-jährige Mascha hat keine deutschen Vorfahren. Sie kam vor acht Jahren als AuPair nach München, in eine Stadt, die sie sich ganz bewusst ausgesucht hatte: „Ich habe davor schon mal eine Reise durch Deutschland gemacht“, erzählt sie. Hübsch seien viele Städte gewesen, aber auf Anhieb wohl gefühlt habe sie sich nur in Bayern. „Die bayerische Mentalität ist mit der russischen Seele kompatibel“, sagt Mascha. Inzwischen sind Veronika und Mascha aus dem „russischen München“ nicht mehr wegzudenken: Das deutsch-russische Theaterfestival „Jula“, das seit vier Jahren jeden Herbst in München stattfindet, war ihre Idee; die Piroschki-Partys, zu denen Bands aus der ganzen ehemaligen Sowjetunion anreisen, werden von ihnen mitorganisiert und außerdem sind sie zusammen im Vorstand des Verbands „Junge Leute aus dem Osten“, Junost, der bundesweit Sommerlager veranstaltet, Theatergruppen organisiert und Deutschkurse für junge Migranten anbietet. Der Freundeskreis von Mascha und Veronika besteht aus russischen Studenten, jungen Russlanddeutschen und jüdischen Migranten. „Viele von uns hatten lange das Gefühl, zwischen zwei Welten zu stehen und haben dann irgendwann beschlossen, sich ihre eigene deutsch-russische Welt zu schaffen“, sagt Veronika. Diese Welt hat wenig zu tun mit den so genannten Russenclubs, in denen man riesige Mengen von Wodka trinkt, kitschigen Pop hört und die Mädchen pinken Lippenstift tragen. Veronika und Mascha wollen aber auch kein Ghetto für „gute russische Kultur“ schaffen. Sie versuchen, mit ihren Veranstaltungen auch Deutsche anzusprechen. Deshalb sind bei den Piroschki-Partys die Vorbands immer Münchner Gruppen und die Konzerte finden in zentral gelegenen Locations wie der Muffathalle statt. „Immerhin ist ein Drittel des Publikums deutsch“, sagt Mascha: „Slawistikstudenten, aber auch Leute, die von Russland keine Ahnung haben, und staunen, dass russische Musik nicht immer kitschiger Pop ist.“


Die beiden wollen Flyer für die nächste Piroschki-Party verteilen und schauen deshalb im „Eremitage“ vorbei, einem Friseursalon in der Josephspitalstraße. Würde man den Ton abstellen, könnte man im „Eremitage“ nichts Russisches entdecken. Aber aus der Anlage tönen russische Balladen und das Personal und viele Kunden sprechen russisch. Der Besitzer, Alexander Tsiroushkin, stammt aus einem der „ältesten Moskauer Friseurgeschlechter“, wie er erzählt. Neun Generationen lang sei seine Familie schon in der Branche tätig. 1990 hat er in Moskau den ersten privaten Friseursalon gegründet. Damals sei der Konkurrenzkampf jedoch hart gewesen: „Es war besser für meine Gesundheit wegzugehen“, sagt Tsiroushkin und es hört sich nicht an, als habe ihm die Luftverschmutzung zu schaffen gemacht. Dank der modebewussten Münchner Russinnen läuft sein Geschäft gut. „Missverständnisse beim Friseur sind folgenschwer“, sagt Tsiroushikin „vor allem Frauen gehen da lieber zu jemandem, der die Muttersprache spricht.“ Wodka Putinka Als Nächstes geht es ins „Odessa“, einen russischen Laden in einem Hinterhof nahe des Stachus. Die Wände sind hier mit Werbung aller Art zugepflastert: In der russischen Kinderkrippe „Matrjoschka“ sind noch Plätze frei, eine Absolventin der Petersburger Akademie bietet private Klavierstunden an und Kolja, ein Bekannter von Veronika und Mascha, veranstaltet RusSound – Clubabende mit russischer Rockmusik. Nun, zwischen sechs und sieben Uhr, ist im „Odessa“ Rush-Hour: Nach Arbeitsschluss kommen russischstämmige Münchner vorbei, um zum Abendessen ein bisschen Heimat ins Haus zu holen. So zum Beispiel die 27-jährige Elena. Seit sie schwanger ist, hat sie Heißhunger auf russischen Krautsalat, der im „Odessa“ aus einem großen Fass geschöpft und in kleine Plastiktüten verpackt wird. Ganz wie in Russland sieht es in den Regalen aber nicht aus: Hier steht der 40-prozentige Wodka Putinka einträchtig neben georgischem Rotwein, der in Putins Russland wegen politischer Unstimmigkeiten aus den Regalen verbannt wurde. Mascha erzählt einen russischen Witz, demzufolge schon Wodka produziert wird, der nach dem neuen Präsidenten Medwedjew heißt. „Die Flasche ist die gleiche, aber der Inhalt nur 39,5-prozentig, damit Putin ewig der Stärkste bleiben kann.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Abends trifft sich das Organisationsteam des „Jula-Festivals für Theater und Musik“ im „Puschkin“, einem russischen Restaurant in Schwabing. Roman, der Besitzer, ist ein Freund von Mascha und Veronika und er verwundert durch zweierlei: Zum einen ist er für jemanden, der eine eigene Kneipe führt, noch verdammt jung, und zum andern gleicht er dem Dichter Puschkin, nach dem sein Restaurant heißt, bis aufs letzte Barthaar. Der 27-Jährige stammt aus Kasachstan. Als er nach Deutschland kam, war er elf und es gab eine Zeit, da wollte er nur Deutscher sein: Er hatte deutsche Freunde, hörte keine russische Musik und nach dem Abitur entschied er sich für eine Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr. Die russische Literatur, die ihm seine Mutter zum Geburtstag schenkte, stellte er oft ungelesen ins Regal. „Aber irgendwann, als ich mich in Deutschland schon ganz daheim fühlte, habe ich angefangen das Russische nicht mehr als Ballast zu sehen, sondern als Chance“, erzählt Roman. Das war genau die Zeit, in der er merkte, dass er doch kein Offizier sein konnte. Roman weiß, dass seine Eltern wegen ihm nach Deutschland gekommen sind. Ihnen ging es gut in Kasachstan. Sie hatten interessante Jobs, ein Auto und eine Datscha, aber sie glaubten, dass ihr Sohn es in Deutschland besser haben könnte. „Meine Mutter hat hier nie eine interessante Arbeit gefunden. Ihre Ausbildung wurde nicht anerkannt“, erzählt Roman. Sie habe lange von einem eigenen Restaurant geträumt, hatte aber Angst vor den deutschen Verordnungen. Jetzt hat Roman ein Restaurant für sie eröffnet. Er kümmert sich um die Bürokratie, serviert und erklärt den Gästen die russische Küche. Seine Mutter kocht Bliny, russische Pfannkuchen, und Borschtsch, Rote-Bete-Suppe. „Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht restlos an Deutschland anpassen kann“, sagt Roman, „aber dann habe ich gemerkt, dass Sich-Einbringen sowieso besser ist“. Am Tisch von Mascha, Veronika und ihren fünf Mitaktivisten wird derweil eifrig diskutiert. Wer kein Russisch kann, versteht dabei nur „Kulturstiftung der Kreissparkasse“, „Aktion Mensch“ und „Zuschussbewilligung“. Als die Finanzierungsfragen des Festivals geklärt sind, ist es schon fast zwölf Uhr Mitternacht. Eine Gitarre taucht auf. Roman gibt russisches Bier aus und kann sich endlich dazusetzen. In den russischen Liedern geht es um Liebe und darum, dass man gerne mal nach Jamaika fahren würde. Irgendwann holt Roman noch eine Runde Bier. Dieses Mal Augustiner, denn letztlich ist das allen hier am liebsten. „Passt übrigens geschmacklich bestens zu Pelmeni“, sagt Roman und isst noch eine der typischen russischen Teigtaschen, die auf einem Teller in der Tischmitte liegen.

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