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La France

Text: virgina
Frankreich! Mein Land, meine Sprache.

Meine Chansons, meine Filme.

Lag es an meinem seltenen französischen Namen sans "e" - ich weiß es nicht. Den nicht genau nachweisbaren Ahnen?

Mit fünfzehn erschuf ich mir einen Freund und ich nannte ihn Hervé. Auf einer zerkratzten Platte, die ich irgendwo gefunden hatte, sang er halb schluchzend "Capri, c'est fini."

Mit Hervé, dem Franzosen, sprach ich ab dann französisch und er mit mir. Er war wunderschön, dunkelhaarig, bleich, traurig.

So ein bißchen wie Jean Pierre Léaud.

Wie der Sänger allerdings wirklich aussah, habe ich nie erfahren.

Meiner trug meistens ein weißes Hemd, einen bordeauxroten weichen Wollpullover und Lewis-Jeans und Espadrilles.

Er studierte Geschichte an der Sorbonne.

Ich stand auf einer Eins und wünschte mich sehnlichst nach Paris.



Dann kam das neue Schuljahr - ich hatte natürlich die Ferien mit Hervé auf einem alten Weingut in der Provence verbracht.

Jetzt war er leider krank und lag im Bett.

Ein neuer Französisch-Lehrer, ein echter Franzose, sollte kommen. Die Mädchen in der Klasse tobten und ein kleiner älterer Mann mit wachen Augen betrat das Zimmer.

Er hatte einen sehr komischen Namen.

Wenn man diesen heute in Google eingibt, werden viele bedeutende Sprachlehrbücher angezeigt, auch für Hebräisch, und seine Doktorarbeit über einen deutsch-jüdischen Schriftsteller.

Er war ein bißchen Louis de Funès und ich schloß ihn gleich ins Herz. Niemand mochte ihn, nur ich. Ich wurde seine Lieblingsschülerin.

Er sprach nur zu mir. Wir übersetzten Chansons, Gedichte, er ging mit uns ins Theatiner-Filmkunsttheater, versuchte rührend uns das Wesen des Landes verständlich zu machen. Die anderen kapierten gar nichts. Ich spielte Gitarre und sang Barbaras "Göttingen" vor der Klasse und nur für ihn eigentlich.

Er roch etwas ungewaschen-modrig, trug immer die gleiche Hose, die gleiche Jacke. Sein Auto- ein alter blauer Ami 6 - war herrlich.

Einmal durfte ich mitfahren. Es sprang nicht gleich an. Aber dann.

Ein Pariser Kennzeichen und alles voller alter Bücher und Zeitungen.

Er hatte Humor, diesen ganz feinen. Ein Außenseiter.

Oft tat er mir Leid, weil die Mitschüler ihn verspotteten.

Auch die Kollegen nahmen ihn nicht ernst. Er war eben Franzose?

Einmal kam er nach der Pause ins Klassenzimmer und alle lachten. Aus seiner Hose hing hinten ein rosa Toilettenpapierstreifen.

Es war furchtbar.

Kurz und gut, das Schuljahr ging, ich hatte wieder eine Eins und ihn dann nicht mehr bedauerlicherweise.

Hervé war auch sehr blass geworden inzwischen und irgendwann war er gestorben.

Als ich dann das Abitur gemacht hatte und allein lebte, trafen wir uns regelmäßig, der Lehrer und die ehemalige Schülerin.

Er lud mich in witzige, nie gekannte Bistros zum Essen ein und wir sprachen nur französisch.

Ich verdanke ihm sehr viel und fast hätte ich es vergessen.

Er wollte immer mit mir verreisen. Ich nicht. Oder doch.

Aus fremden Ländern schickte er mir immer eine Karte.

Darauf stand meistens nur ein bedeutungsvoller Satz.



Und dann kam der Tag. Ich hatte für ihn zuhause bei mir gekocht. Er schenkte mir rote Rosen. Wir waren allein.

Ich war erfreut und gerührt. Ein schöner Abend. Mit Wein.

Wir sprachen französisch, ich strahlte ihn an und irgendwann sollte er gehen.

Ich begleitete ihn in den Flur.

Auf einmal riß er mich an sich, bedeckte mein Gesicht mit Küssen, fasste an meine Brust. Ich wehrte mich, roch den alten Mann, er ließ nicht ab, stolperte. Mein "non, non!" wurde nicht gehört, immer verzweifelter berührte er mich überall.

Ich war zwanzig und er 61.

Eine Ohrfeige. Ich wußte sonst nichts mehr.

Er taumelte benommen. Aus der Tür.



Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Einmal noch habe ich ihn angerufen. Er legte sofort auf.



Heute sehe ich deutlich diesen klugen Lehrer und besonderen Menschen vor mir und daß ich damals nicht bedachte, was mein begeistertes Verhalten für Frankreich in dem einsamen Wissenschaftler hervorrief.

Er war auch ein Mann. Und vielleicht habe ich auch ein bißchen gespielt. Unbewußt.

Ich weiß gar nicht, ob er noch lebt.



Er fehlt mir. Heute ganz besonders und ich weiß nicht warum.



Mit der französischen Sprache habe ich seitdem irgendwie Schwierigkeiten.

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