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Text: Gradwandermaedchen
Es war ein grauer Tag gewesen, mit einfarbigem, erdrückendem Himmel, so einer, an dem sie immer Kopfweh bekam. Jetzt war es dunkel und das Kopfweh besser und vor sie rollte der hell erleuchtete Zug. Sie stieg ein und setzte sich ans Fenster. Sie hätte auch hinaus geschaut, aber das gnadenlose Neonlicht überzog alles mit einem käsigen Schleier und vermittelte das Gefühl, es würde die Menschen, die sich ihm aussetzten, durchdringen und die ganzen Sorgen und Ängste an die Oberfläche werfen. Also starrte sie auf ihr blasses, verquollenes Spiegelbild und der Zug setzte sich in Bewegung.

Drei oder vier Mal hielten sie. Dann konnte sie doch hinausschauen, weil die Straßenlaternen den Schleier vom Fenster hoben. Beim fünften Mal schob sich vor die Straßenlampen ein Zug, der auf dem Gleis nebenan einfuhr. Sie beobachtete die vorbeifliegenden Fenster, und während die Waggons langsamer wurden, hatte sie immer einen Augenblick länger Zeit, die Leute dahinter zu betrachten. Dann blieb der Zug stehen. Und sie blickte in sein Gesicht. Und er in ihres. Mit versteinerter Miene saß er da, bei seinen Geschwistern, durchschienen und bleich vom Neonlicht. Der Schmerz zerriss beinahe die Scheiben. Es schien, als würden die Decke und die Sitzreihen näher rücken, sie gegen das Glas drücken und ihre Lunge zerquetschen. Doch der Moment war so kurz, es wäre möglich, dass ihr Herz währenddessen nicht schlug. Ihr Zug fuhr los und er verschwand, unfähig, sich zu bewegen und mit geschocktem Gesichtsausdruck. Die Fenster zogen wieder vorbei, aber sie konnte nichts mehr sehen, auch nicht ihr eigenes leichenartiges Gesicht, als das Neon sich wieder auf das Glas legte. Die Ohnmacht hätte die Lampen zersprengen können, den Zug lahm legen, die anderen Menschen zerfetzen. Sie hätte es nicht gemerkt. Weil sie nichts sah außer seinem geisterhaften Gesicht hinter den Scheiben.

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