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Was uns alle antreibt? Der Glaube an das "Funktionieren müssen"

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Was treibt uns eigentlich an? Super Noten? Ein vermarktbarer Lebenslauf? Gute Berufsperspektiven? Anerkennung? Ned Vizzini, ein New Yorker Schriftsteller, hätte vor nicht zu langer Zeit hinter jedem Punkt einen Haken gesetzt und gesagt: So muss das wahre Leben sein. Vizzini, 26, beschreibt im Buch „Eine echt verrückte Story“ einen Teenager, der alles dafür tut, um an einer der besten High Schools genommen zu werden. Er macht das, was seine Eltern sich für ihn wünschen: das Beste aus sich. Als sich aber seine neuen Mitschüler als die besseren Bildungsmaschinen entpuppen, baut er körperlich ab. Er kifft, er kotzt sein Essen raus. Sein Körper reagiert auf den Druck, funktionieren zu müssen mit einer Depression. In der Nacht, in der er von der Brooklyn Bridge springen will, kommt er in die Psychiatrie und unterzieht sein Leben einer Art Vollwaschgang. Er sieht bald verwundert auf eine Gesellschaft, in der das Streben nach Bedeutung alle anderen Ideen vom Leben in den Schatten stellt. Sein Buch, so Vizzini, sei zu 85 Prozent autobiografisch. Gut, lässt sich kopfnickend einfügen, so ist es eben in Amerika. Da kommt doch auch der Shareholder-Value her und dort ist Harvard zuhause. Vielleicht hat Vizzini trotzdem auch ein Buch über Deutschland geschrieben. Auch bei uns werden schon Kindern erste Brocken der chinesischen Sprache in den Mund gelegt; wenn nach der Grundschule der Übergang zum Gymnasium nicht klappt, herrscht in vielen Einfamilienhäusern Gewitterstimmung; vor kurzem bekamen Schüler an einem bayerischen Gymnasium Ordner, in denen sie Bescheinigungen über ihr nebenschulisches Engagement abheften sollen; und an den Hochschulen gibt es jetzt verschulte Bachelor- und Master-Studiengänge, die schneller zum Abschluss führen sollen. „Wir arbeiten unser Soll ab“ Die Umstellung auf dieses Studiensystem scheint vor allem für die Studenten einem Schock gleichzukommen. Als sich im vergangenen Jahr an der Berliner Humboldt-Universität Studierende zur „Projektgruppe Studierbarkeit“ zusammen fanden und ihre Kollegen fragten, wie sie das „Experiment Studienreform“ erleben, waren die Ergebnisse ernüchternd. Gut 2 100 Fragebögen wurden ausgewertet, es ging unter anderem um die Vereinbarkeit des Studiensystems mit Nebenjobs und um Zulassungsbeschränkungen zum Masterstudium. Hunderte von Kommentaren beklagten die neu entstandenen Verhältnisse: „Hohe psychische Belastung, hohe Konkurrenz“ – „Panikattacken“ – „Angst vor der Zukunft und Angst vor vergeudeter Zeit“. Als jetzt.de im Winter gemeinsam mit einer Studentengruppe den Essay-Wettbewerb „Macht Freiheit einsam?“ ausschrieb, gingen viele Essays von Studenten ein, die sich an einer Art Generationen-Portrait versuchten. Immer wieder geht es darin um die Kreation eines marktgängigen Lebenslaufes, der einen im Berufsleben wie ein Schwert begleiten soll. „Wir arbeiten unser Soll ab“, schreibt ein Einsender, vergisst aber, sich der Frage zu widmen, wer ihm das Soll auferlegt hat.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der Sozialforscher Hans-Werner Bierhoff sagte in einem Interview, in Deutschland sehe er keine Leistungsgesellschaft sondern eine „Leistungsideologie“. Simone, 27, (Name geändert) wurde so etwas wie ein Opfer dieser Ideologie, so es sie wirklich gibt. Die Dortmunderin studierte Biotechnologie und will ihren echten Namen nicht nennen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, seit sie 2006 ihre Stelle im Außendienst kündigte. Es war der erste Job nach dem Studium und alles war gut. „Du fühlst dich wie ein König, wenn du eine solche Stelle hast“, sagt Simone. Sie bekam ein monatliches Einstiegsgehalt von 3 200 Euro, Provisionen und ein Auto, mit dem sie täglich bis zu 600 Kilometer durch Deutschland fuhr, um in Krankenhäusern Geräte zu verkaufen. Sie machte ihren Job gut, legte aber eines Tages den Kopf auf das Lenkrad und sagte sich: „Was soll das hier, wir kratzen doch eh alle ab.“Ihre verkäuferischen Misserfolge wurden ausgiebig beraten, während ihre Erfolge nur routiniert zur Kenntnis genommen wurden. Im heimischen Büro und im Auto auf den Fahrten war sie immer für sich. „Ich bin sozial verarmt. Und kam mir scheiße vor, weil meine Verkaufsquote nicht bei 100 Prozent lag.“ Kündigen aber kam für Simone nicht in Frage. Es gab da ein Bollwerk in ihrem Kopf. „Bei meinen Freunden war in der Arbeit alles super – immer. Ich habe mich verglichen und gefragt: Was habe dann ich für ein Problem?“ Eine Freundin trichterte ihr ein, dass sie unmöglich kündigen könne, ohne eine Alternative zu haben. „Sie wollte mir vermitteln, dass Aufgeben nicht … gesellschaftsfähig ist.“ Simone setzte sich zum ersten Mal mit der Frage auseinander: Warum mache ich, was ich da mache? Sie überlegte, mit ihrem Freund ein Kind zu zeugen, um aus dem Job aussteigen zu können. Schwangerschaft ist höhere Gewalt, das ist, wie Simone es nennt, „eine passive Entscheidung“, ein Einfluss von Außen. Aktive Entscheidungen sind dagegen anstrengend. Ihr Traum mit der Café-Gründung, Simone denkt laut nach, „das wäre wohl eine aktive Entscheidung. Das würde ich wohl mit Herzblut machen. Aber ... das ist nicht kompatibel mit dem, was ich mir im Studium erarbeitet habe.“ Sie macht eine Pause. „In der Konsequenz machst du dann einen Job, der deiner Bildung entspricht, aber nicht glücklich macht.“


Als Klaus Hurrelmann, wieder ein Sozialforscher, Ende 2006 die Shell-Jugendstudie vorstellte, die er mitbetreute, sprach er von der „pragmatischen Generation“. 2 500 junge Menschen im Alter zwischen 15 und 28 Jahren waren befragt worden. „Man sieht eine Generation, die alle Erwartungen der Gesellschaft nach Verantwortung, Leistungsbereitschaft und Familiensinn erfüllt.“ Hurrelmann definiert unter den Jugendlichen vier Wertetypen: Idealisten, Unauffällige, Macher und Materialisten. Bei den Studenten ist im Vergleich zum Jahr 2002 die Gruppe der Idealisten von 37 auf 31 Prozent geschrumpft. Die Gruppe der Macher wuchs von 22 auf 28 Prozent. Beim Gedanken, weiter durchhalten zu müssen ging es Simone immer schlechter. Sie bekam Migräne, Depressionen, hatte einen Bandscheibenvorfall. Sie besuchte eine Psychologin und kündigte schließlich. Heute arbeitet sie für ein anderes Unternehmen, sie hat Kollegen und sagt: „Der einzige Druck, den du dir machen kannst, kommt aus dir selbst.“ Dass Schüler, Studenten und Berufsanfänger heute mehr mit psychischen Problemen kämpfen, ist nicht ganz neu. Vergangenen Herbst klingelte man beim Deutschen Studentenwerk mit dem Glöckchen und verkündete, dass so viele Studenten wie nie zuvor die werkseigenen psychosozialen Beratungsstellen aufgesucht hätten. Vergangene Woche folgte aus gleicher Quelle die Meldung, dass immer mehr Studierende mit dem Burn-Out-Syndrom kämpften. „Wir haben eine massive Zunahme, was psychische Störungen angeht. Und Leistung ist dabei ein extremes Thema“, sagt Silvia Uhle, Leitende Psychologin an der Christoph-Dornier-Klinik für Psychotherapie in Münster. Uhle spricht von Angststörungen, Zwangserkrankungen, Essstörungen und Depressionen. Vor allem die Eltern, sagt Silvia Uhle, haben Angst: Wenn das Kind kein Abitur macht, hat es womöglich keine Chance. Die Eltern wollen, dass es ihre Kinder so gut wie sie selbst haben. „Die Mütter wollen perfekt sein und erziehen mit allen möglichen Erziehungsratgebern“, sagt Uhle. „Die Noten, die die Kinder aus der Schule nach Hause bringen sind dann zum messen da: ’Hat es funktioniert?’“ Woher diese Folgsamkeit, das Leben nach den Prinzipien der Ökonomie zu ordnen? Haben wir keine anderen Ziele? „Händler hier!“ Der Mann am Telefon heißt Ernst-Wilhelm Händler und ist Schriftsteller und Philosoph und hatte einst eine Metallbaufirma. Heute schreibt er Bücher für die Bestsellerlisten. Eines heißt „Wenn wir sterben“ und im Klappentext steht: „Händler zeigt, wie die moderne Industriegesellschaft den Menschen entwurzelt und deformiert: Menschliche Existenz hat nur noch ökonomischen Sinn.“ Händler spricht von Menschen, die in einer Differenz zu sich selbst leben. Sie tun etwas anderes als das, was sie gerne wären. „Sie bekommen Aufgaben, denen man objektiv nicht genügen kann. Denen man aber genügen möchte.“ So wird das Leben bloß zu einem Abarbeiten von Anforderungen. „Im 20. Jahrhundert gab es politische Ideale oder Utopien. Sowas gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch ein Thema: Geld verdienen. Anforderungen.“ Mut zum Mittelmaß Händler glaubt, junge Erwachsene sind in einer Zwischensituation gefangen. In den Köpfen entdeckt er das Erbe des humboldtschen Systems. „Man hat früher nicht studiert, weil man was werden wollte. Man hat studiert, um sich zu bilden.“ Und jetzt, so Händler, „gibt es die volle Dröhnung aus der Wirtschaft.“ Bildungssystem und Wertigkeiten haben sich geändert, zwischen Humboldt und Ökonomie gibt es noch keine Vermittlung. „Wir stellen uns gerade erst um“, sagt Händler und spricht schließlich vom „Erbe der Romantik“, unter dem deutsche Studenten leiden würden. In einer Studie des Hochschul-Informations-Systems für die Wochenzeitung Die Zeit geben 88 Prozent aller befragten Studenten an, ihre Generation müsse flexibler und besser ausgebildet sein. Hingegen wollen nur 26 Prozent Karriere machen. Vielleicht beschreiben diese Zahlen die von Händler besprochene Differenz. Vielleicht redet man deswegen nur auf Partys leise von den Träumen, in denen man etwa mit guten Freunden ein Café betreibt. In Cafés geht das Leben, vermeintlich, einen langsameren Gang. Vielleicht sind Cafés das Gegenteil des Bologna-Prozesses. Silvia Uhle rät, im übertragenen Sinne, zur Café-Gründung. Sie verlangt von ihren Patienten etwas fast Ungehöriges: „Mehr Mut zum Mittelmaß.“ Ned Vizzini lanciert auf der letzten Seite seines Buches - da hat er die Psychiatrie inzwischen verlassen – einen simplen Aufruf. Er ändert sein Leben und fordert sich selbst und seine Leser auf, zu spielen, zu lieben, zu weinen, zu hüpfen. „Nimm diese Verben“, sagt er, „und genieße sie.“

Text: peter-wagner - Illustration: Dirk Schmidt

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