Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Peru - ein Reisebericht

Text: Johanab
Ich frage mich, ob man einer Maschine dankbar sein kann. Einer Maschine? Mein Blick wandert durch den runden Bauch des Flugzeuges und hinaus auf den langen schlanken Flügel. Diese Maschine befördert mich die so weite Strecke über den großen blauen Ozean auf den anderen Kontinent. Damit leistet sie doch einen beträchtlichen Beitrag zur Verwirklichung meines großen Traumes, die langersehnte Südamerikareise. Ich bin wirklich dankbar. Wahrscheinlich ist es ein kindliches Gefühl, aber das stört mich nicht, kindliche Gefühle sind besonders schön, sie sind einfach und echt.

Als ich schließlich um ein Uhr morgens in Lima am Flughafen ankomme, ist das ergreifende Gefühl längst vergangen, inzwischen bin ich nur noch erschöpft von der langen mühseligen Reise. Ich stehe am Fließband und sehe Koffer an Koffer vor mir vorüberziehen. Mein roter Wanderrucksack ist nicht dabei. Nach langem vergeblichen Warten begreife ich schließlich, dass mein Rucksack die Reise wohl nicht so reibungslos wie ich überstanden hat und ich fülle einen Gepäck-vermisst-Zettel bei den Flughafenbeamten aus. Obwohl mein gesamtes Hab und Gut wortwörtlich auf der Strecke geblieben ist fühle ich weder große Verzweiflung, noch breche ich in Tränen aus. In meinem Kopf heißt es nur: „Ich bin hier und das ist die Hauptsache, wer braucht denn schon Gepäck? Jetzt beginnt das große Südamerikaabenteuer!“ Nachdem mein Abholkommitee beinahe zwei Stunden am Flughafen auf mich gewartet hat, sind auch sie heilfroh über meine Ankunft und scheren sich wenig um das fehlende Gepäckstück.

Beim Anblick der ersten Palmen, erwacht sofort das konditionierte glückliche Urlaubsgefühl, aber ich versuche zu begreifen, dass Palmen nun schon bald zum Alltag gehören werden, was mich noch fröhlicher stimmt. Zum ersten Mal in meinen Leben befinde ich mich außerhalb des alten heimeligen Europas. Mein Vorhaben, nach dem Abitur die Entscheidung für ein Studienfach mit einem längeren Auslandsaufenthalt hinauszuzögern, ist gelungen.



Lima ist eine riesige lärmende, dreckige Stadt, die meiner ersten Einschätzung nach nur aus großen Straßen und vielen hupenden Fahrzeugen besteht. Deshalb beschließe ich bereits am nächsten Tag nach Chiclayo an der Nordküste Perus zu fahren, wo meine zukünftige Gastfamilie auf mich wartet. So ganz ohne Gepäck, mit geliehenem Schlafanzug und Zahnbürste, und immer noch sehr erschöpft, fühle ich mich nun doch sehr zwischen Tür und Angel baumelnd. Baumelnd auch zwischen sich bereits bemerkbar machendem Heimweh und gespannter Neugier auf die fremde Zukunft. Ich bin ungeduldig darauf, endlich mein zu Hause für die kommenden Monate kennen zu lernen, mein Zimmer, mein Bett.

In der folgenden Zeit schlafe ich die Reiseerschöpfung hinaus, schlafe die vielen ungewohnten Eindrücke, die Zeitverschiebung, die Verwirrung und Ergriffenheit hinaus, alles hinaus. Wenn ich wach bin denke ich mir, wie kann man denn nur so viel schlafen, wo doch alles so neu, so aufregend ist, wo ich doch so viel zu entdecken habe. Aber erst, als ich mich richtig ausgeschlafen habe, bin ich richtig angekommen.

Jetzt gehe ich auf Entdeckungsreise. Ich höre exotische Namen von unbekannten, köstlich schmeckenden Früchten, schaue mich in Haus und Schulgelände um, das so gar nicht den deutschen Schulen gleicht. In Wirklichkeit sehr schlicht und bescheiden vergleichsweise, obwohl es sich um eine gute Privatschule handelt. Der Verkehr in Chiclayo ist ein riesiges Chaos. Verkehrsregeln kann ich keine entdecken, das einzige was zählt, ist die Hupe. Hupen heißt soviel wie „aus der Bahn, hier komme ich!“. Aber es macht Spaß, mit den Combis, knatternde, wackelnde, halbzerfallene Minibusse, in die Stadt zu fahren. Weder Geschwindigkeitsanzeiger, noch Tankanzeige funktionieren, aber das extra eingebaute, neue Radio läuft immer.

Ich schlendere durch die bunten staubigen Straßen Chiclayos, höre im vorbeigehen Männer Sprüche murmeln, sehe im Augenwinkel viele Blicke mir nachwandern, kaue den süßen Saft aus Zuckerrohrstückchen heraus, die ich von einem der vielen Straßenverkäufer erhalten haben, und spucke die fasrigen Reste auf den Boden. In den engen wirren Gassen des großen Marktes staune ich über halbe, aufgehängte Kühe, über die Fülle an vielfarbigen Körnern und Samen, die dazu verleiten die Hand hineinzustecken und die Körner durch die Finger gleiten zu spüren, staune über kitschige Kindergeburtstagdekoration in Neonfarben, über indianische Heilmittelchen in geheimnisvollen Fläschchen, über Berge an Früchten und Gemüse, gesprenkelte Tomaten und überdimensionale Gelberüben, über feurig leuchtende Chilischoten und über ein Gekrabbel aus Krebsen und fremdartigen Meerestieren. Beißende Gerüche steigen mir in die Nase, Gerüche nach Fisch, überreifen Früchten und herben Kräutern. Neugierig koste ich die fremden Speisen mit stolzen Erklärungen über die einzelnen exotischen Zutaten. Reis darf in keinem der Gerichte fehlen, fast immer ergänzt durch Jukka oder Süßkartoffel und Linsen oder Bohnen. Ohne zu zögern esse ich sogar Meerschweinchen, eine peruanische Delikatesse. Schließlich ähnelt das Fleischstückchen auf meinem Teller auch nur dem eines Hünchens und ich beiße unerschrocken hinein. Als ich später in der Küche allerdings zufällig die kleinen geschlachteten Füßchen und Köpfchen entdecke, spüre ich beinahe einen kleinen Stich in der Brust, muss ich doch an meine eigenen Haustierchen in der Kindheit denken.

Nach wenigen Tagen beginne ich mein Praktikum im Kindergarten der Schule. Es gibt mir ein gutes Gefühl eine Aufgabe zu haben, meinen festen Platz einzunehmen und den Alltag zu beginnen. Wieder bin ich ein Stückchen weiter angekommen. Im Kindergarten lerne ich auch mehr Spanisch zu reden, da es mir vor den Kleinkindern, die selbst noch nicht einwandfrei sprechen, leichter fällt, mein brüchiges Spanisch anzuwenden. Von den Kindergärtnerinnen lerne ich bald die wichtigsten Floskeln im Umgang mit den Sprösslingen und Wörter wie Kleber und Spitzer sind die ersten, die ich in mein Vokabelheft aufnehme. Die exotischen Namen der vielen fremden Früchte und der hundert Kartoffelsorten kann ich nur sehr schwer behalten. Nach einer Woche bin ich noch überaus unzufrieden mit meinen Sprechkünsten. Wie kann es sein, dass ich Tag und Nacht nur Spanisch um mich habe, und trotzdem keine merklichen Fortschritte mache? Erst als ich nach weiteren Wochen aufhöre, mich darüber zu ärgern, beginne ich ganz unmerklich, besser mit der Sprache umzugehen.

Dann die ersten Kontakte schnuppern. In dem kleinen Städtchen Monsefú, nur ein Vorort Chiclayos, komme ich mir anfangs manchmal vor wie eine Außerirdische. Mit blonden Haaren und hellen Augen bin ich dort eine Exotin. Scheu beäugen mich zu Beginn die älteren Schüler, die jüngeren sind mutiger und kontaktfreudiger. Spätestens als ich anfange, an den nachmittäglichen Tanzstunden teilzunehmen, beginnt das gegenseitige Entdecken und Kennen lernen. Oft bin ich von einer Traube Schülern umringt, die erpicht darauf ist, deutsche Wörter zu lernen, oder zu hören, was es denn Tolles in Deutschland gibt.



Natürlich will ich auch dass Land erkunden. Meine erste Reise geht nach Cusco, für die Inka der „Nabel der Welt“. Cusco ist ein Muss, wichtigstes Ziel aller Südamerikareisenden. Wenn man mit dem Flugzeug in die einstige Inkahauptstadt reist, macht es kurz vor der Landung eine heftige Biegung um einen der Berge herum, um in die von den Anden umringte Stadt zu gelangen. Sie liegt auf über 3000 Meter Höhe, weshalb fast alle Reisenden die Höhenkrankheit bekommen. Vorbeugend trinken wir ständig den typischen Matetee der überall angeboten wird und nicht nur gegen Höhenkrakheit sondern auch gegen Hunger und Müdigkeit hilft. Typisch sind auch die zwei langen schwarzen Zöpfe der Frauen, die sich noch in traditionellen bunten Röcken durch die schmalen Gassen der Märkte bewegen und sich mit Hüten vor der Sonne schützen. Ihre Indiogesichter zwischen den vielen Touristen sind es, die der Stadt ihren besondern Zauber verleihen, genauso wie die kleinen weißen Häuser im Kolonialstil, mit bunten Balkonen in den engen Kopfsteinpflastergassen. Und auch die für die Ewigkeit gebauten Inkamauern, die noch von dem früheren, mysteriösen Großreich ahnen lassen. Es gibt mir ein wunderbar beruhigendes Gefühl, durch diese märchenhafte Stadt zu gehen und zu wissen, dass sie auch in der eilig voranschreitenden und alles mitreißenden Zukunft so erhalten bleiben wird, wie sie jetzt ist. Zu wissen, dass es wenigstens eine Stadt auf der Welt gibt, die nicht von der wuchtigen Modernisierung ergriffen wird und nicht von 20stöckigen Betonbauten zermalmt wird. Diese Stadt hat ihre Erhaltung zum einzigen Ziel, denn nur so kommen die Touristen und nur vom Tourismus lebt sie. Deshalb komme ich mir besonders behütet vor, in dieser wunderschönen Stadt hoch oben versteckt in den Anden. So versteckt, und doch treffen sich die verschiedensten Leute aus aller Welt, jung und alt, schlitz- und rundäugig, abends in den Reggaebars mit dicken Alpakapullovern sitzend, da die Fenster weit zur „plaza de armas“ geöffnet sind, trotz nächtlicher Kälte.

Während den Ausflügen zu den zahlreichen Inkafestungen rund um Cusco blicken einen die gemütlich am Wegrand liegenden Lamas mit ihren langbewimperten Augen an und die Sonne scheint golden auf die sanftgeschwungenen Hänge der Anden.

Der Zug Richtung Machu Picchu rollt kurz nach der Abfahrt wieder Rückwärts und man denkt schon wir hätten etwas vergessen, aber dann fährt er wieder vorwärts, und nach kurzer Zeit nochmals in die andere Richtung. Dieses Hin- und Her einige Male, bis den seufzenden Bahnreisenden klar wird, dass sich der Zug aus dem Tal den Hang hinauf bewegt, sozusagen seitwärts, um aus dem Sackgassenbahnhof hinaus zu kommen. Von Cusco nach Machu Picchu sind es vier Stunden Fahrt, aber der Wackelzug bahnt sich seinen Weg durch eine berauschende Landschaft im Tal des Urubambaflusses, wo man zwischen Kakteen hindurch hinauf zu schneebedeckten Berggipfeln blicken kann.

Oben auf Machu Picchu, der lange unentdeckten Inkastadt, bricht die Sonne zwischen den Wolken hervor. Sie scheint genau auf die Ruinenstadt, während über den mächtigen Bergen ringsum bedrohlich dunkle Wolken hängen, woraus sich ein atemberaubende Stimmung ergibt.



Zurück in Monsefú lebe ich mich in den Alltag ein. Mit den Schulklassen unternehme ich Exkursionen zu Pyramiden und Tempeln der Präinkakulturen an der Nordküste Perus. Wir besichtigen die erst kürzlich entdeckte Grabstädte des Mochicaherrschers Señor de Sipán und die Chimúhauptstadt Chan Chan. In Monsefú wird der Geburtstag des Städtchens gefeiert und ich darf im Umzug als Ehrengast der Schule mitmarschieren. Ich bekomme Anticucho, das sind leckere Fleischspieße, zu kosten, wovon man mir später sagt, es seien Hühnchenherzen gewesen. Wieder habe ich etwas gegessen, das ich in Deutschland nie anrühren würde. Aber ich bin in einem fremden Land und in fremden Ländern probiert man Neues, auch wenn man sich selber bisweilen etwas fremd wird. Eine schöne Art der Selbsteentdeckung.

Mit vollem Eifer nehme ich an den Tanzstunden teil, wo ich einige der vielen tausend folkloristischen Tänze Perus lerne. Jedes Städtchen hat seinen eigenen Tanz, der an den Festtagen vorgeführt wird, und jeder Tanz hat seine eigene Botschaft, sei es die Avocadoernte oder der Flirt eines Liebespaares. Dabei spielt die aufwändige traditionelle Kleidung mindestens eine ebenso große Rolle, wie die Choreographie und der Zuschauer wird von dem fröhlichen Lächeln und dem stolzen Augenaufschlag der schönen Gesichter in den Bann gezogen. Ich lerne Tänze mit kuriosen Namen wie „Cunturtusui“, „Chorachoraio“ oder „Ajatapaiachi“. Eine Woche vor meiner Abreise kann ich sogar an einer Aufführung teilnehmen. Den Schülern macht es großen Spaß mich in die vielen Röcke einzukleiden und meine blonden Haare zu den zwei peruanischen Zöpfen zu flechten. Ganz Monsefú freut sich bei meinem Auftritt über das deutsche Mädel, dass ihre Kultur mitlebt.

Während meiner letzten Tage in Peru nehme ich alle Bilder, alle Klänge und Gerüche noch einmal ganz intensiv wahr, um sie tief in mein Gedächtnis einzugraben. Peru. Ein faszinierendes Land mit stolzen Menschen. Sie sind stolz auf die kulturellen Schätze, auf die Musik, das köstliche Essen, die Handwerkskunst und die landschaftliche Vielfalt. Es ist ein ansteckender Stolz.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: