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Die Suche nach der Zeit

Text: richardgraichen
In fünfzehn Minuten mit dem Auto in der Stadt. In vier Tagen mit dem Fahrrad durch Bayern. In sieben Stunden per Düsenstrahl über den Atlantik.



Unsere Reise beginnt direkt vor der Haustür. Es ist halb acht am morgen, schon viel zu spät, da das Thermometer bereits jetzt mehr als fünfundzwanzig Grad anzeigt und die Sonne gerade erst angefangen hat, die Gegend aufzuheizen.



28 Grad Celsius – Wir haben etwa fünf Kilometer zurückgelegt und ein kleines Waldstück sorgt für eine geringe Abkühlung. Die Träger meines Rucksackes beginnen bereits, sich in ihrer Weise lauthals bemerkbar zu machen. Ich beginne zu erfassen, auf was ich mich eingelassen habe.



30 Grad Celsius – Unglaublich, dass das wirklich meine Heimat ist. Rechter Hand lassen wir ein zerfallenes Bauerngut hinter uns, das scheinbar irgendwo im Nichts steht. Auf der anderen Seite eine vermutlich seit Jahren unbenutzte Brücke über einen ebenso vergessenen Feldweg, als plötzlich nur schemenhaft wahrgenommen die Regionalbahn Leipzig-Chemnitz an uns vorbeischießt, wie jede halbe Stunde. Abseits der Straßen und in nie erlebter Langsamkeit baut sich mir ein völlig neues Bild meiner eigentlich vertrauten Umgebung auf. Hügel werden zu nennenswerten Erhebungen und der nächste Ort liegt Stunden entfernt.



33 Grad Celsius – Der erste Liter Wasser ist verbraucht, an ein Durst stillendes Gefühl ist nicht zu denken. Um nicht gänzlich im Zickzackkurs der Waldwege zu Grunde zu gehen, weichen wir auf kleine Landstraßen aus. Von Klimaanlagen verwöhnte Autofahrer überholen uns ungläubig, wahrscheinlich unterwegs in den Supermarkt, weil Klebestreifen fehlt.



35 Grad Celsius – Immer klarer wird mein Blick für die Details, die uns umgeben, während ich an einer ungewöhnlich platten Amsel, die sich scheinbar auf dem Asphalt ausruht, vorbeistapfe. Auf dem Weg ins Muldental, mittlerweile ohne Pause drei Stunden unterwegs, können wir das erste Obst klauen. Voller Entsetzen stelle ich fest, wie unterschiedlich das Klima an so nahen Punkten auf der Landkarte sein kann. Ich widerstehe jedoch der Versuchung und lasse die Pfirsiche hängen.



36 Grad Celsius – Die Hälfte ist geschafft. Wir waren fast vier Stunden dem Hitzetod nahe und haben bisher knapp vierundzwanzig Kilometer in den Gelenken. Eine gigantische Sinnesflut liegt hinter uns. Einer dieser mittlerweile nicht mehr ganz so erfrischenden städtischen Brunnen wird zur liebsten Anlaufstelle. Unglaublich, wie berauschend unsere Geschwindigkeit sein kann, gleicht unser Drang in die Ferne doch sonst einem nervös-hektischen Umherzucken vom Start zum Ziel.



38 Grad Celsius – Wir haben ein lauschiges Plätzchen gefunden direkt am Flussufer. Die ersehnte minimale Abkühlung bleibt uns versagt. Die Pause lässt uns trotz der elenden Wärme neuen Optimismus sammeln, auch den zweiten Tagesabschnitt irgendwie zu überwinden. Ein kurzes Nickerchen trägt sein Übriges dazu bei.



39 Grad Celsius – Die Ortschaften werden kleiner, die Felder nehmen ihren Verlauf auch über die leichten Kämme hinweg und werden zu endlosen, goldenen Ebenen. Wir müssen erkennen, dass alle anderen Lebewesen, denen wir begegnen, seien es Kühe, Schafe, Menschen, sich zurückgezogen haben und im Schatten ausharren, um regungslos auf einen kühleren Abend zu warten. Außer uns scheint keiner den Wahnsinn in sich zu tragen, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Die Straße, die wir mühselig bergauf bewältigen, scheint kein Ende zu nehmen. Dennoch bin ich mir sehr sicher, Schritt um Schritt der Erlösung dieser Tortur, sprich unserem Nachtlager, näher zu kommen.



37 Grad Celsius, Wind kommt auf – Ebenso viele Kilometer liegen hinter uns. Meine Kraftreserven sind so gut wie aufgebraucht. Fast fünf Liter Wasser sind im Laufe dieses Tages in meinen Körper hinein und wieder hinaus gespült worden. Als hätte es an Höhepunkten gemangelt, zieht eine gigantische Rauchwand an uns vorbei - irgendwo war ein Weizenfeld in Brand geraten. Wir sind doch kaum weiter als eine halbe Autostunde von meiner Wohnung weg gekommen. Über meine Schultern ziehen sich rote Striemen und mein Körper fühlt sich an, als wäre er gebacken worden. So nah können Grenzen sein, so neu das Alltägliche, so berauschend jede Impression.



von Mario Petzold


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