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Mu Zimei: Chinas berühmteste und berüchtigtste Bloggerin

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Angestrichen: Positionen: von Angesicht zu Angesicht, von hinten, von der Seite, im Stehen, eng umschlungen. Anzahl der Beteiligten: von eins bis unendlich. Häufigkeit: einmal im Monat, einmal in der Woche … bis zu x-mal pro Tag. Die Hilfsmittel sind fest, elastisch, flüssig … oder nur die natürlichen Organe. Aber nichts davon ist hundert Prozent unfehlbar. Der Sex heutzutage erlaubt alles, ist aber immer noch schambesetzt. Wo steht das denn? In „Mein Intimes Tagebuch“ von Mu Zimei, in dem die 28-jährige Chinesin, die im bürgerlichen Leben Li Li heißt, sachlich, kühl und fast emotionslos von Sex mit ehemaligen Liebhabern, Sex mit Unbekannten, Sex mit mehreren, Sex mit Frauen, Sex mit Callboys, Rocksängern und noch vielen andern schreibt. Millionen von Lesern (die Rede ist von 30 Millionen) verfolgten zwischen Juni und November 2003 ihr Weblog, bis sie auf Druck der chinesischen Regierung den Zugang einschränken und ihn schließlich ganz schließen musste. Ihr Buch wurde in China direkt nach Erscheinen verboten, westliche Medien bezeichneten sie als „Schlafzimmerrebellin“ (Guardian) oder als „Protagonistin der sexuellen Revolution in China“ (Stern). Dabei fing eigentlich alles ganz harmlos an, wie Li Li alias Mu Zimei im Interview mit jetzt.de erzählt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wie kam es zu der Idee des Weblogs? Im Sommer 2003 kamen Weblogs in China in Mode. Das Magazin „City Pictures“ in Kanton, wo ich damals arbeitete, veröffentlichte ein Sonderheft über dieses neue Medium. Meine Kollegen und Freunde ringsum fingen an zu bloggen und auch ich aktualisierte jeden Tag mein Blog und erzählte von meinem Privatleben. Ich war damals auch für die Sex-Kolumne des Magazins zuständig. Die Stories, die ich in der Kolumne nicht vollständig aufschreiben konnte und andere, noch intimerer Erlebnisse schrieb ich in meinem Blog nieder, was die Leser sehr interessierte und mir viel Spaß machte. Deshalb machte ich ununterbrochen weiter. Warum das Thema Sex? Sex ist die intimste Form des menschlichen Umgangs. Es ist ein Leben, eine Gesellschaftsform, ein Bedürfnis. Kanton ist eine so hektische Stadt, da erschien mir das „Mit-ihm-ins-Bett-gehen“ als direkteste Art, jemanden kennen zu lernen und mit ihm vertraut zu werden. Ich bin ein sehr neugieriger Mensch und möchte die Gefühle, das Temperament, das Sexinteresse, aber auch die Süchte und Laster erkunden, die ein Mann normalerweise nicht zum Ausdruck bringt. Weil ich den Männern sexuell sehr offen begegnete, bekam ich Seiten von ihnen zu sehen, die andere nicht sehen konnten. Ab und zu kam ich mir wie eine erlebende Schriftstellerin vor, die selbst auf Jagd geht, um Schreibmaterialien zu sammeln. Das war wie ein Hobby. Männer kamen mir wie interessante Elemente in einer chemischen Sexstruktur vor. Auf Seite 34 von knapp 300, also ganz am Anfang des Buchs, sagt Mu Zimei, dass sie mit 65 Männern Sex hatte. Wie viel Männer hatte Li Li? Alles, was Mu Zimei erlebt hat, ist wahr. Alle Stories, die im Weblog beschrieben wurden, passierten auch Li Li. Macht es wirklich Spaß, Sex mit Fremden zu haben und so oft wie möglich den Partner zu wechseln? Ohne Spaß hätte ich nicht die Motivation, mit Fremden zu schlafen. Es war ja sehr interessant. Ich fand auch den ersten Sex auf Haschisch sehr spannend und den ersten Sex in einer Bar, genauso wie das erste Mal mit einer Gruppe von Männern oder das Treffen mit Strumpffetischisten oder männlichen Jungfrauen. Ich war für diese Männer eine Frau, die sie zu neuen Vorstellungen und Erlebnissen führen könnte. Das alles hätte in einer langfristigen Beziehung mit nur einem Mann nicht erleben können. Die schnell gefundene, schnell vollzogene und schnell beendete Beziehung ist sehr reizvoll und besonders. Was ist mit Liebe, Vertrauen und Geborgenheit? Brauchen Sie das nicht? Natürlich brauche ich das, aber es ist nicht das einzige, was ich brauche. Wenn ein Kind ein Bonbon haben möchte und dafür auf etwas anderes verzichten muss, würde es wahrscheinlich ja sagen. Auch ich muss auf einige Sachen verzichten, wenn ich andere haben möchte und wenn ich Angst davor hätte, etwas zu verlieren, würde ich darum kämpfen, es zu behalten. Aber wenn mich meine Willkürlichkeit zum Abenteuer treibt, wäre mir egal, was ich dafür verliere. Aber es ist nicht so, dass ich automatisch Liebe verliere, nur weil ich mit egal wem Sex habe. Viele chinesische Männer würden ein Mädchen wie mich nicht akzeptieren, es gibt aber auch Männer, die meinen Mut bewundern. Ich habe eine andere Art von Liebe bekommen. Beim Lesen entsteht der Eindruck, als wollten Sie sich an den Männern rächen. Stimmt das? In meinem Blog gibt es Verhöhnung und sarkastische Beschreibungen von Männern. Ich wollte die sexuellen Prozesse aufschreiben, einschließlich meiner Bewertung einzelner Männer. Wenn ich jeden Mann nur lobe und bewundere, damit er zufrieden ist, ist das für mich nichts anderes als Betrug. Aber mit Rache hat das nichts zu tun, sonst könnte man sagen, dass sich alle feministischen Werke an Männern rächen, nur weil die weiblichen Autoren sie selber sind und sich nicht um die Gefühle der Männer kümmern.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sie wurden als Rebellin und Protagonistin der sexuellen Revolution in China gefeiert. Sind Sie das? Haha, ich lebe nicht mit einer gen Himmel gehobenen Fahne in der Hand. Ich habe eher Angst, mit solch einem großen Wort charakterisiert zu werden. China ändert sich zurzeit ständig, wird immer offener, immer moderner. Die Sexualität der jungen Leute unterscheidet sich sehr von der der älteren Menschen. Ich bin nur eine besondere Vertreterin der jüngeren Generationen und vertrete die Einstellungen und das Leben eines Teils der jungen Leute. Hat Sex mit möglichst vielen Menschen wirklich etwas mit Freiheitsrechten zu tun? Sozial gesehen wahrscheinlich doch. China hat nach der Befreiung von 1949 bis in die 80er Jahre hinein eine lange asketische Zeitperiode gehabt. Damals war die Sexualität der Menschen unterdrückt, das Sexbenehmen kontrolliert, politisch wie rechtlich. Die Leute waren sehr unfrei, weil ihre Sexualität nicht ihnen gehörte. Im Jahr 1983 wurden Fälle bekannt, dass Frauen, die mit mehreren Männern Sex hatten, zum Tode verurteilt wurden. Und wenn ein Mann auf der Straße eine fremde Frau anflirtete, konnte er eine Freiheitsstrafe von über zehn Jahre bekommen. Damals war jeder ängstlich, selbst Liebespaare. Ich habe jene Jahre nicht erlebt. Als ich volljährig wurde, war die Luft schon frei. Niemand kümmerte sich darum, mit wem ich Liebe mache, One-Night-Stands waren in Mode. Ich musste mir die Freiheit nicht erkämpfen, aber gegenüber den vorangegangen Jahren ist sie dennoch eine Befreiung.


Sie wurden nicht nur bewundert, sondern auch gehasst, mussten ihr Weblog schließen, wurden gefeuert und zum öffentlichen Skandal. Wie gingen Sie damit um, im gesellschaftlichen Abseits zu stehen? Als mein Verhalten gegen die Tradition verstieß, wollte die Gesellschaft dies nicht tolerieren. Das ist meiner Meinung nach verständlich. In einer Gesellschaft leben verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Meinungen. Ich kann nicht verlangen, dass mich alle akzeptieren. Ich habe nichts besonders Schlimmes erlebt, denn ich bin ja nicht ins Gefängnis geworfen oder aus China rausgeschmissen. Es ist schon über drei Jahre her, dass Sie Ihr Weblog schrieben: Werden Sie immer noch von Männern angesprochen? Bis heute möchten viele Männer mich kennen lernen, mich sehen und mit mir ins Bett gehen, vor allem aus Neugierde. Manche Männer wollen aber auch meine Freunde werden und es gibt Männer, die Angst vor mir haben. Im letzten Jahr hat ein Freund in seinem Weblog eine Kontaktanzeige für mich veröffentlicht, in der stand, dass ich einen Bräutigam suche. Darauf habe ich mehr als 3.000 Schreiben erhalten. Ja, sie wissen alle, dass ich Mu Zimei bin, dass diese Mu Zimei kein braves Mädchen ist, aber sie möchten es probieren. Sogar hat ein chinesisch-stammiges Mädchen aus Australien hat mir geschrieben und mich gebeten, über ein Zusammenleben mit ihr nachzudenken (ich bin bisexuell). Egal, wie viele von diesen Schreiben ehrlich gemeint waren – ich fand es sehr lustig. Am Ende habe ich niemand zum Bräutigam auserkoren. Was machen Sie heute? Ich arbeite bei einer Website-Firma. In meiner Freizeit filme ich Menschen auf der Straße mit meiner Kamera und interviewe sie. Das finde ich spannend. Es geht aber nicht mehr um Sex, sondern ich stelle auf diese Weise das Leben der etwas abseitigen Jungs und Mädchen dar, künstlerische Ereignisse und sonderbare Aktivitäten. Ich werde weiter meinem Herzen, meinem Gefühl folgen. Vielleicht werde ich eines Tages die Tür hinter mir schließen, Ruhe finden und wieder ein Buch schreiben, nicht über mein Sexleben, aber außerhalb des Stroms. Worum es geht, weiß ich noch nicht. Bereuen Sie es, ihr intimes Tagebuch im Internet geschrieben zu haben? Ich bereue es nicht. Es hat mir und anderen eine neue Welt eröffnet. Mein intimes Tagebuch von Mu Zimei ist im Februar im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen, hat 304 Seiten und kostet 8,95 Euro Fotos: Jiang Xiaoming, Cover: Aufbau Verlag

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