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Das Mädchen, das im Wald wohnt

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Kurz vor dem Waldrand bleibt Nele stehen. Den letzten Kilometer hat sie ihr Fahrrad gegen stürmischen Westwind bergauf geschoben. Die Stadt ist hinter ihr zu einer Ansammlung von gelben Lichtern geschrumpft. Nele legt den Kopf in den Nacken und dreht ihn. „Ich horche immer erstmal. Damit ich nicht mitten in eine Wildschweinrotte renne.“ Und dann geht es in den Wald hinein. Der blasse Lichtkegel, den ihre Stirnlampe in die Dunkelheit schickt, irrt über Eichenstämme und Fichtenunterholz, mal nach rechts, mal nach links. Feuchtes Laub bedeckt den Boden. Dann erfasst der Lichtkegel das Tarp, eine hellgrüne, straff gespannte Plane. Das Tarp ist Neles Dach. Ihr Haus ist in die Erde gegraben: Ein Meter tief, zwei Meter lang, zwei Meter breit. Die Wände sind aus sandigem Waldboden. Auf dem Fußboden liegt eine rote Wolldecke und mitten darauf ein angebissener Apfel. „Oh“, sagt Nele, „da waren wieder Mäuse.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Es ist Dezember und Nele wohnt in einem Wald in Vorpommern. Alleine. Sie hat sich zwischen Eichen ein Loch gegraben, eine Plane darüber gespannt und eine Feuerstelle eingerichtet. Während ihre Kommilitonen in der nahegelgenen Stadt in WG-Küchen und Arbeitszimmern die Heizung aufdrehen, holt Nele eine Spaltaxt mit einem gigantischen Stiel und geht zum Hackklotz. Die Axtschläge dröhnen im Wald, laut und dumpf. „Wenn ich nach Hause komme, mache ich immer als erstes ein Feuer“, sagt Nele, zündet dünne Zweige mit einem Feuerzeug an und legt die frisch gespaltenen Holzscheite wie Jenga-Steine oben drauf. Schon brennen die Scheite, das Feuer wärmt, heller Rauch beißt in den Augen. Nele legt ein Eisenrost über die Feuerstelle und stellt einen Emailletopf darauf, in den sie Milch aus einem Tetrapack leert. Sie ist keine Einsiedlerin und auch nicht menschenscheu. Sie fährt morgens in die Stadt, lernt für Prüfungen, besucht ihre Freunde und nutzt reihum deren Duschen und Waschmaschinen. Abends zwischen acht und neun kehrt sie zurück zu ihrer Grube, macht sich ein Feuer und etwas zu essen und legt sich schlafen. Die meisten ihrer Freunde wissen wo sie lebt, ihre Eltern nicht. „Nicht weil sie entsetzt wären oder sich Sorgen machen würden. Aber ich wusste am Anfang nicht, wie lange ich das durchziehe. Die Situation war einfach noch zu unsicher, um meine Eltern damit zu konfrontieren.“ Viele bewundern den Mut und die Entschlossenheit, die man braucht, wenn man zur dunkelsten und kältesten Jahreszeit im Wald wohnen will. Einige schütteln verständnislos den Kopf.


Mit der Wildnis drum herum wirkt Neles Grube mit der an der Ostseite eingelassenen Feuerstelle wie eine Festung. Gemütlich, sauber und aufgeräumt. Die Erde von der Grubenwand fühlt sich trocken und sandig an und zerbröselt zwischen den Fingern. Der Wind ist unverändert stark und die Eichen, dreißig Meter hoch, biegen sich bei jeder Böe. Das klingt wie Brandung, die an den Strand braust, erst dumpf und weit, dann kommt sie näher, wird lauter, bis auch die Bäume direkt neben dem Tarp vom Wind erfasst hin und her schwanken.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nele hat keine umfangreichen Erklärungen dafür, wieso sie seit Oktober im Wald wohnt. „Ich hatte einfach Bock darauf“, sagt sie, „Und dann habe ich das gemacht.“ Um sich selbst unter Druck zu setzen, hat sie als erstes alle anderen Angebote ausgeschlagen: Die Wohngemeinschaft, in die sie hätte einziehen, das Zimmer, das sie hätte haben können. „Wenn du eine andere Option hast, machst du so was nicht. Und dann“, sagt sie, „hätte ich das wahrscheinlich auch nicht durchgezogen, wenn ich am Anfang alleine gewesen wäre.“ Salomon war damals dabei. Er ist Neles amerikanischer Freund, der eigentlich lieber eine Dusche haben wollte und ein richtiges Dach über den Kopf. Der sich dann aber doch mit ihr auf die Suche nach dem besten Platz im Wald gemacht hat. Einen Nachmittag brauchten sie, um das Loch auszuheben, die Plane zu spannen und die Feuerstelle einzurichten. Und dann haben Nele und Salomon zwei Wochen gemeinsam unter dem Tarp gewohnt. Aber Salomon arbeitet als Zimmermann in den USA. Er musste wieder zurück fliegen, weil er hier keinen Job finden konnte. Damit stand das Waldprojekt auf der Kippe. „Damals war ich mir nicht so sicher, ob ich hier weiter wohnen würde“, sagt Nele, „das war schon krass, auf einmal alleine im Wald zu sein.“ Die Milch dampft und wenn Feuchtigkeit aus den Scheiten weicht, zischt es. Der Wald ist im Feuerschein klein und weit weg. Schatten flackern an den Erdwänden. An der Stirnseite liegt der Feuerplatz, links Neles Vorräte: feuchte Tücher zum Hände waschen, Zahncreme, Spagetthitüten, Äpfel, Zwiebeln, Wasserflaschen. Rechts klein gesägte und gestapelte Holzscheite, die unter der Plane trocknen. Und neben der Grube steht ein kleines blaues Zelt, wo Nele Kleidung, Decken und Schlafsäcke aufbewahrt. Wenn nur die Angst nicht wäre. Im Wald kann man eigentlich vor allem Angst haben. Davor entdeckt zu werden, zum Beispiel. Nele hat keinen Mietvertrag mit dem Förster abschlossen. Eigentlich begeht sie jeden Tag aufs Neue eine Ordnungswidrigkeit. Löcher im Wald zu graben, um sich dort niederzulassen, gehört nicht zu unseren Grundrechten. Es gibt auch die Angst vor der Dunkelheit. Vorm Alleinsein. Vor Wildschweinen, Mäusen, Zecken oder auch davor, einen Ast auf den Kopf zu bekommen. Nele glaubt aber, dass die größte Gefahr von anderen Menschen ausgeht. Sie hat Evakuierungspläne, wie es sie für Schiffe in Seenot gibt. Bei der Annäherung von unbekannten Menschen: Wegrennen. Bei Wildschweinalarm: Auf den nächsten Baum klettern. Es gibt einen Wildschweinschutzbaum, dessen dünne Zweige im blassen Lichtkegel wenig Vertrauen erwecken. Irgendwo im Wald knackt etwas. Ein Wildschwein? Ein Streuner? „Das war nur ein Ast.“ Nele bleibt gelassen. Die Aufmerksamkeit hat aber auch ihren Preis. So richtig fallenlassen kann sie sich im Wald nicht, ein bisschen Anspannung bleibt immer. Manchmal träumt sie davon den Wald zu verlassen. Dann richtet sie sich in Gedanken ein eigenes Zimmer ein. Weil sie Musik am meisten vermisst, steht eine Stereoanlage ganz oben auf der Inventarliste. Aber Stöpsel im Ohr sind im Wald für Nele tabu: „Damit würde ich mich irgendwie schutzlos fühlen.“ Neles Zeit im Wald läuft bald ab: Anfang des Jahres sind die Prüfungen vorüber. Dann wird sie wohl ihre Decke zusammenfalten, die Töpfe und Pfannen in Kisten verpacken und wegfliegen, Salomon hinterher. Aber bestimmt nicht für lange.


Spätestens seit Nele im Sommer ein paar Tage auf den Strassen von Budapest gewohnt hat, ist sie fasziniert vom Leben unter freiem Himmel. Vielleicht wird es irgendwann ein neues Waldprojekt geben. Nele hat Expansionsideen: Man könnte doch auch zu viert oder fünft im Wald wohnen, mit mehreren Gruben und überall rauchende Feuer.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Aber noch ist sie alleine in Wald, Wind und Dunkelheit. Wolken rasen an einem milchigen abnehmenden Mond vorbei und Nele steht für eine lange Zeit unter ihrem Tarp. Das Feuer ist aus, der Wald riesengroß und dunkel. Nele lauscht. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt, dreht sich langsam um sich selbst und horcht in die Nacht. „Wenn ich alleine bin“, sagt sie, „mache ich manchmal den ganzen Abend nichts anderes.“ In der Nacht wandert der Mond von der einen Seite des Tarps auf die andere. Nele schläft ungerührt, die Eichen brausen, alles ist gut. Im fahlen Dezembermorgenlicht lassen sich lauter Details entdecken, die im Dunkeln unsichtbar geblieben waren: Wie das Tarp mit Klettertauwerk zwischen den Bäumen abgespannt ist. Das Teenetz, an Tannenzweigen aufgehängt und ein Topfablageregal, aus Ästen gebaut. Eine pastellfarbener Dämmerung, kriecht zwischen den Eichen hinauf und Nele sagt über ihre tägliche Rückkehr in den Wald: „Wenn man das einmal gemacht hat und man wacht am Morgen auf, freut man sich so, das man am nächsten Abend wieder hinfahren muss.“ Zurück in der Stadt mischt Nele sich unter die anderen Sudenten. Nur der Holzfeuergeruch und ein bisschen Erde an ihren Schuhen könnten verraten, woher sie kommt. Fotos: Jens Götz

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