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New Blogs On The Kids

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#1 Blogs sind keine Massenmedien David Sifry, der Chef der Meta-Suchmaschine Technorati, war selbst erstaunt, als er im August die aktuellen Zahlen aus seiner Datenbank veröffentlichte. 50 Millionen Blogs gibt es auf der Welt. 100 Mal mehr als noch im Jahr 2003. Und die Blogosphäre verdoppelt sich laut Technorati alle 200 Tage. Kein Wunder, dass die Weblogs zu „neuen Meinungsmachern“ (Erik Möller) oder „Massenmedien neuer Art“ (Kevin Kelly) ernannt werden. Den Bloggern selbst ist das Trommelfeuer aus Ritterschlägen nicht unangenehm, wettern viele doch selbst gegen das dunkle Imperium der so genannten Mainstream-Medien. Aber: Blogs sind keine Massenmedien. In Deutschland gibt es 37,5 Millionen Internet-Nutzer. Die geschätzte Zahl der deutschen Blogs schwankt zwischen 60 000 und 300 000. Ein paar Zahlen: Nur 55 Prozent der Deutschen haben laut dem Digital-Life-Report von TNS Infratest schon etwas von dem Begriff Weblog gehört. Selbst bei der 14-19-jährigen Internet-Generation sind es nur 68 Prozent. Die ARD-Online-Studie 2006 fand heraus, dass nur sieben Prozent der deutschen Internet-Nutzer schon einen Weblog besucht haben. Übrigens: Laut dem Weblog-Experten Jan Schmidt werden nur ein Drittel der verzeichneten Weblogs gelegentlich, also einmal im Monat, aktualisiert. Oder anders: 60 Prozent der Blogs sind tot! Sicher: Die Blogosphäre ist wichtig und mag mittlerweile selbst in Deutschland eine kritische Masse erreicht haben, die ihr von Zeit zu Zeit eine öffentliche Relevanz verleiht. Noch ist Bloggen aber eine Subkultur wie Skateboarden. Die Blogosphäre ähnelt eher einem durch Trackback und RSS hochgradig vernetztem Dorf, das gerade durch die Vernetzung und der Zitat-Gegenzitat-Logik eine Illusion der eigenen Relevanz produziert.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

#2 Star-Blogger wollen das Internet eigentlich hinter sich lassen Zum Beispiel Mario Lavandeira aka Perez Hilton, der bekannteste Celebrity-Blogger Amerikas. Auf seinem Blog PerezHilton.com berichtet der 28-Jährige täglich mit spitzer Zunge von den neuesten Entgleisungen junger Hollywood-Stars und erreicht damit momentan angeblich mehr als 2,5 Millionen User pro Tag. Aus dem erfolglosen und hochverschuldeten Schauspieler, ist ein erfolgreicher Unternehmer geworden, der nach eigenen Angaben monatlich eine sechsstellige Summe verdient. Aber sein Blog ist ihm zurzeit egal. Er schreibt an einem Buch und eine Reality-Show über sein Leben. Zum Beispiel Katharina Borchert. Die ist als eine von ganz wenigen Frauen mit ihrem Blog „Lyssas Lounge“ zu einem Star in Deutschlands Blogger-Szene aufgestiegen. Auf dem Blog ist seit ein paar Monaten nicht mehr viel los. Kein Wunder. Die Frau ist Chefredakteurin von WAZ Online und entwickelt eine neue Web-Plattform. Zum Beispiel all die Myspace-Musiker, die über den Umweg Internet versuchen, an einen Plattenvertrag heranzukommen. So sehr diese Menschen vom Internet profitiert haben und in dieser neuen Welt berühmt geworden sind, so sehr wollen sie aus dem unsicheren und unrentablen Ghetto raus kommen. Schon paradox: Selbst für die Avantgarde des Web 2.0 ist die Stabilität der Mainstream-Medien attraktiver als das ach so zukunftsfähige Internet. Leider haben die Ex-Internet-Stars die Herrschaft ihrer neuen Arbeitgeber zuvor mit ihren Blogs ins Wanken gebracht.


#3 Blogs sind ein soziales Instrument Nicht jeder Blogger hält sich für Ulrich Wickert. Laut der „American Life and Internet Study“ des amerikanischen Meinungsforscher von PEW, bloggen 59 Prozent der Menschen, „um ihr Leben zu dokumentieren“ und 37 Prozent, um mit ihren Freunden Kontakt zu halten. Nur elf Prozent der Blogger geht es um Dinge wie Politik oder Gegenöffentlichkeit. Um einen Blog zu verstehen, muss man nicht nur die Sprache sprechen, sondern auch der gleichen Lebenswelt angehören oder zumindest die gleichen Bands mögen. Laut der PEW-Studie lesen zwei Drittel der Blog-Nutzer nur Texte, die von Freunden und Bekannten geschrieben wurde. Viele Blogger wollen auch gar nicht von der ganzen Welt gelesen werden, sondern sehen in Weblogs nur eine Möglichkeit um mit der Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben. „Privacy Management“ wird deshalb bei Angeboten wie „Livejournal“ immer wichtiger. Man kann einem Beitrag so unterschiedliche Sichtbarkeitsebenen zu verleihen. Dass James Bond dir gefallen hat, kann dann jeder Blog-Besucher lesen, dass du aber gerade mit deiner Freundin Schluss gemacht hast, sehen nur deine besten Freunde.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

#4 Blogs werden vor allem von Journalisten gelesen Was heute auf BoingBoing gepostet wird, findet man zwei Tage später auf den Vermischten-Seiten der deutschen Presse. Der Themen-Kanal ist begradigt, gut ausgebaut und sieht ungefähr so aus: Blog -> Internet-Leitmedium -> Tageszeitung -> Tagesthemen. Weil Journalisten gerne die Blogs der Early Adopters absurfen und dort irgendwo auch den Puls der Zeit bumpern hören, haben die Blogs beträchtlichen Einfluss als Agenda-Setter. Mitunter kommt es dabei zu absurden Beziehungsketten, die sich am Ende in nichts auflösen. Ein Beispiel: Am Nachmittag des 20. November schreibt ein Mitglied der Mapping-Community thewall.de in sein Weblog, der Emsdettener Amokläufer Sebastian B. habe schon vor einigen Jahren eine programmierte Map seiner Schule im Internet veröffentlicht. Die Bildzeitung zeigt promot am nächsten Tag Screenshots mit der Unterschrift „Ein detailgetreues Modell“. Nachmittags stellten die Blogs und später Spiegel-Online richtig: Die Karte zeigt in Wahrheit eine ganz andere Geschwister-Scholl-Schule und wurde überdies auch nicht von B. erstellt. Aber die Information war nun mal in der Welt und wird es dank Google Cache auch für immer sein. Einen weiteren Tag später greift Stern-TV die Theorie von der Geschwister-Scholl-Karte wieder auf.


#5 Blogs als Nachrichtenquelle brauchen ein Ereignis Ein 29-jähriger Mann aus Bagdad revolutioniert die Medienwelt: Salam Pax berichtete während des Irakkriegs über das Internet als einziger Iraker aus der bombardierten Stadt und vom Alltag während des Krieges. Er war die einzige authentische Stimme in einem Meer von eingebetteten und manipulierten Journalisten. Dank Pax und der US- Präsidentschaftswahl 2004 gelten Blogs als neue Gegenöffentlichkeit und Korrektiv zu dem Massenmedien. Manchmal enttäuschen sie die Erwartungen. Manchmal funktionieren die News-Blogs sehr gut. Als das Fernsehen bei den Bombenanschlägen in London mit dem Sendewagen noch im Stau stand, sendeten die ersten Menschen aus den verrauchten U-Bahn-Schächten Bilder und Texte per Handy an ihre Blogs. Auch nach dem Hurrikan Katrina waren die lokalen Blogger besser informiert als alle anderen. Blogger sind wichtig, wenn die Medien keinen Zugang zu Informationen haben oder Informationen bewusst übersehen. Der iranische Journalist Hossein Derakshan, der das preisgekrönte Weblog „Editor:myself“ betreibt, war einer der ersten, der einen Weblog auf Farsi geschrieben hat. Mittlerweile existieren im Iran an die 100.000 Weblogs, die für den Restwelt die einzige Informationsquelle sind. Nicht jeder Blogger ist ein guter Bürgerjournalist. Oft genug bleibt es bei holprigen Meldungen. Informations- und Nachrichtenwert besitzen vor allem Fachblogs. Ein riesiges Heer der Spezialisten, Fans und Nerds, die uns mit nie gehörten Fakten, kruden Schnipseln und ungewöhnlichen Blickwinkeln bereichern und um ihren Blog herum eine Wolke an Gleichgesinnten versammeln.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

#6 Mit Blogs muss man rechnen Die schönste Geschichte ist immer noch die von Howard Dean. Mit seinem Weblog konnte der linke Präsidentschaftskandidat 2004 mehr als 40 Millionen Dollar und 200 000 Freiwillige gewinnen, bevor er in einer Schmäh-Kampagne aus der rechten Seite der Blogosphäre unterging. Auch Firmen müssen die Macht der Blogs achten. Jaap Favier, Medienberater bei Forrester, meint: „aktive Blogs können eine Marke an einem Tag aufbauen und auch wieder vernichten“. Die jahrelange Sweatshop-Praxis von Nike&Co wäre im Zeitalter der kampagnenfähigen Blogger wohl nicht mehr möglich. Nur eine Warnung an alle PR-Fritzen und Demagogen: Der Internet-Buzz ist ein mächtiges Instrument, aber eine Lawine, die man lostritt, kann man nicht mehr kontrollieren. Manchmal dreht sie sogar um, und stürmt den Berg wieder hinauf.


#7 Blogs sind korrupt wie wir alle Ein schönes Zitat aus einem US-Weblog: „Part of the deal we have together: I do not hide the times when I am an ass or a fool“. Blogs sind die Stimme eines Autors, und wirken vielleicht deshalb authentischer und ehrlicher als bösartige Konzerne wie die Bild-Zeitung. Der Blogger Don Alphonso beschrieb in seinem „Blogs“-Buch ausführlich die Integrität des Bloggers, der nur über Dinge schreibt, die er aus eigener Anschauung kennt, intelligent, engagiert, unbestechlich und finanziell unabhängig. Die Anti-Kommerzialität der Blogs ist lange vorbei. Der deutsche Blog Wirres.de ließ sich kürzlich von Opel sponsern und berichtete über seine Erlebnisse mit dem Neuwagen. Und das US-Unternehmen Payperpost hat gerade mehrere Millionen Dollar Risikomaterial eingesammelt. Das Geschäftskonzept: Blogger für Werbe-Beiträge zu bezahlen. Aus Blogs sind Unternehmen und Ich-AGs geworden. Auch sie verspüren vielleicht Druck von Anzeigen-Kunden und bekommen unmoralische Angebote. Es kommt ganz auf den Charakter des Autors an.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

#8 Blogs sind ein Ventil und damit ein Therapie-Ersatz Das bloße Aufschreiben frustrierender und deprimierender Zustände kann befreiend sein. Das zeigt zum Beispiel die Methode „Frustzettel“, die von Psychotherapeuten als Verarbeitungsmaßnahme verordnet wird. Frustauslöser sollen dabei auf einem Blatt Papier niedergeschrieben werden, welches im Anschluss vernichtet wird. Die Blogosphäre weist zahlreiche vergleichbare Einträge auf. Ein Beispiel: „Gerade habe ich mir eine riesen Schelte von meiner Hausärztin abgeholt, ich habe 10 Kilo Übergewicht ;o( (…) naja, irgendwie werde ich das hinbekommen, mußte mich gerade nur mal ein wenig ausheulen ;o)“, schreibt eine deutsche Bloggerin am 17. August 2005 in „schnackepuhs.blogspot.com“. Mitfühlende Kommentare folgen auf dem Fuß: „Tja, da kann ich mich zu Dir gesellen *schnieftmit* Aber laß uns unsere hübschen Köpfe nicht hängen lassen, okay? *knuddeltDichmalganzdolle*“ Die einseitige Frustzettelmethode wird hier um die Spiegelung durch Außenstehende erweitert. Vielleicht erhält man auch mal einen guten Rat.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

#9 Bloggen muss man mal gemacht haben Es war ein Sonntagabend kurz vor neun, als ich auch ein Blog haben wollte. Um kurz nach neun hatte ich eines, es stand nichts drin. Ich schrieb einen Eintrag. Es gab keinen Chefredakteur, keinen Duden, keine „60 Zeilen mehr ist nicht drin!“-Ansagen: bloggen fühlte sich an wie Urlaub, nur mit Tastatur. Bis zehn Uhr hatte mein Blog drei Einträge und zwei Fotos. Ich wartete, nichts geschah. Ein Zähler zeigte an, dass mein Blog bisher elfmal aufgerufen wurde. Das war ich selber. Nach dem Zähneputzen schaute ich ein zwölftes Mal nach, las meine Einträge, sah mir die Fotos an, fühlte mich gut unterhalten und ging ins Bett. Am nächsten Tag kam ich erst am Abend dazu, mein Blog zu öffnen, das ich unberührt vorfand. Ich schrieb einen zaghaften Eintrag, mit dem Vermerk, dass ich in den nächsten Tagen nicht bloggen könne, da ich verreisen musste, und entschuldigte mich für diesen Umstand. Der Zähler zeigte vierzehn Aufrufe. Zurückgekehrt von der Reise öffnete ich noch im Mantel mein Blog und schrieb erleichtert: Bin wieder da! Nichts geschah. Nur der Zähler hatte eins weiter gezählt. Ich schrieb keine weiteren Einträge und lud keine Fotos mehr hoch, gewöhnte mir vor verlängerten Wochenenden und bei Bettlägerigkeit aber an, mich kurz in meinem Blog abzumelden. Das bin ich meinen Lesern doch schuldig.

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