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Philosophie aus Pappbechern

Text: ekreiszahl
Ich bin ungern draußen, wenn mein Atem kondensiert. Ich sitze lieber drinnen, statt Eisluft in meinen Kragen fließen zu lassen. Freilich spielt in dieser Hinsicht auch meine Wohnung eine Rolle - dort lässt sich eben einfach gut Zeit verbringen. Mit diesen "Schöner Wohnen"-Modell-Räumen kann sich mein Wohnzimmer ohne Zweifel messen, finde ich. Zumal die Fensterfront direkt auf einen Park blickt. Sowas findet man in Frankfurt nicht oft, geschweige denn in München. Das dort drüben, zwischen den mittlerweile kargen Trauerweiden und dem trübgelben Dreispitz-Ahorn, das ist eine grüne Insel mitten in der Stadt. Ein Paradies für thermobeschichtete Jogger und für frischgebackene Mütter und für thermobeschichtete frischgebackene Mütter, die mit dem Kinderwagen joggen gehen. Im Sommer picknicken tagsüber Liebende auf der Wiese, abends verdünnen die Jungs aus der Gegend dort ihr Blut mit Alkohol. Die sitzen immer auf den zwei Bänken am Nordende des Parks und machen Lärm bis die Oma einen Stock über mir die Geduld verliert, was in aller Regel recht schnell passiert. Wenn allerdings die Tage kürzer werden, sieht man die Jugendlichen immer seltener. Auch die Verliebten weichen aus, aufs Kino oder vielleicht auf die Couch. Die Insel gegenüber meinem Balkon sieht dann wie ein Stillleben aus, leergefegt wie die Installation eines Landschaftsgärtners. Wenn der Atem kondensiert, sitzen dort drüben nur noch die alten Männer mit den löchrigen Klamotten. Auf den Bänken am Ostende, mit Blick auf unser Haus, lassen sie sich Eisluft in den Kragen kriechen. Den Sommer über ist der Park eine In-Location, im Winter ist er ein Exil. Wer ein Zuhause hat, der ist im Winter lieber drinnen und mümmelt sich in die Decke ein. Die Herren im Park haben kein Zuhause, sie haben Wodka. Der soll nicht nur das Blut verdünnen, sondern auch wärmen und die Außenwelt in Milchglas verwandeln. Bei Minusgraden ist ihre Flasche so kalt, dass sie aus Pappbechern trinken. Wenn die Jugendlichen betrunken sind, sind sie laut und Worte sprudeln. Die Männer auf der Ostbank reden kaum. Und wenn sie reden, kommen ihre Worte zähflüssig über die Lippen wie Sirup. Meist sind sie zu dritt, manchmal zu viert, und sie starren vor sich hin. Sie blicken in ihre Becher wie die joggenden Mütter in die neue "Schöner Wohnen". Einer, der mit dem nachtschwarzen Kraushaar und dem abgetragenen Bundeswehr-Parker, steht gelegentlich auf und dreht eine gemächliche Runde auf dem Joggerweg. Anschließend setzt er sich wieder auf seinen Platz - die linke Hälfte der rechten Bank - und blickt in seinen nieleeren Becher, als gäbe er Antworten auf all das.


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