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Studium Generale am Leibniz-Kolleg: "Es geht ums WIE, nicht ums WAS"

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8800 Möglichkeiten für Abiturienten, eine Richtung im Leben einzuschlagen - viele sind von der schieren Angebotsmenge überfordert. Viele interessieren sich für viele Dinge zugleich, vielen fällt es schwer, sich für eine Richtung zu entscheiden. Als Möglichkeit, verschiedenste Fächer kennen zu lernen und sich zu orientieren, bieten viele Universitäten ein so genanntes Studium Generale an. Der Begriff geht auf das Mittelalter zurück, als die ersten Universitäten entstanden, an denen eine grundlegende Allgemeinbildung angestrebt wurde. Dort wurden die Septem Artes Liberales unterrichtet, die sieben liberalen Künste. Dazu gehörten zum Beispiel Grammatik, Musik und Rhetorik. Allerdings wird heute nicht an jeder Uni das gleiche unter dem Begriff „Studium Generale“ verstanden. Einige Unis, wie die Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität, bieten einen Kanon aus verschiedenen Fachvorlesungen als „Studium Generale“ an. Die Vorlesungen haben Themen wie „Einführung in die Philosophie“ oder „Shakespeares Dramen“ und stehen jedem offen, der sich dafür interessiert – Seniorenstudenten, Gasthörern und fachfremden Studenten (Infos hier). An anderen Universitäten gibt es die Möglichkeit, zwei Semester lang in den Uni-Alltag zu schnuppern, an Kursen und Seminaren teilzunehmen und so herauszufinden, welches Fach längerfristig zu einem passen könnte. Dieses Angebot gibt es zum Beispiel in Hamburg, dort bietet das sogenannte UniversitätsColleg eine Orientierung Generale an (Infos hier). Eine besondere Form des „Studium Generale“ wird seit fast sechzig Jahren in Tübingen angeboten. Für das Leibniz Kolleg müssen sich die Teilnehmer bewerben und Studiengebühren bezahlen. Dafür können sie ein Jahr lang gemeinsam mit über 50 anderen Studenten studieren und leben und aus einem Angebot von gut 40 verschiedenen Kursen pro Trimester wählen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Herr Behal, Sie leiten das Leibniz-Kolleg in Tübingen. Wer kommt zu ihnen aufs Kolleg? Selten sind das Leute, die nicht wissen was sie wollen. Zu uns kommen eher Leute, die sich für so viele Sachen interessieren, dass sie sich nicht entscheiden können. Die möchten keinen Bereich, der sie interessiert, unberücksichtigt lassen und wollen alles kennen lernen. Es kommen auch junge Menschen aufs Leibniz-Kolleg, die sich nicht sofort nach dem Abitur spezialisieren wollen. Für sie ist es wichtig, sich erst mal eine Zeit lang einen breiten Horizont anzueignen, für sie steht oft das interdisziplinäre Arbeiten im Vordergrund. Einigen der Studenten ist die Uni auch noch zu groß und anonym. Was spricht für ein Studium Generale am Leibniz-Kolleg? Zum einen gibt es für Unentschiedene bei uns jede Menge Fächer, die repräsentativ dafür sind, was an der Uni passiert, sowohl von den Inhalten als auch von den Arbeitsweisen her. Zum anderen werden hier viele Methoden und Techniken unterrichtet, wie man zum Beispiel mit schwierigen Texten umgeht, wissenschaftliche Prosa schreibt und ähnliches. Bei uns kann man auch mal gut in die universitäre Atmosphäre reinschnuppern. Außerdem wird hier unendlich viel diskutiert, was die Fähigkeit, Standpunkte zu präsentieren und rhetorisch Situationen zu meistern, verbessert. Rhetorik spielt bei uns generell eine wichtige Rolle, dafür gibt es am Anfang eine allgemeine Einführung und später spezielle Kurse. Wie viele Studenten haben sie pro Jahrgang? 53 Studenten sind es in jedem Jahrgang. Es bewerben sich zwischen 150 und 200. Wir schicken Informationen an Lehrer, Schulen, Arbeitsämter und Berufsinformationszentren. Die Studenten bewerben sich mit Lebenslauf, Interessenbericht und Zeugnis. Jeden, der sich vollständig beworben hat, laden wir zwischen Januar und August zu einem Gespräch ein. Der redet dann mit mir, einem Kollegen und lernt Studenten in unserem Haus kennen. Alle Studenten, mit denen er sich unterhält, können an die studentische Kommission berichten, die gemeinsam mit uns den nächsten Jahrgang auswählt. Welche Kriterien bestimmen die Auswahl der Studenten? Uns geht es darum, eine gute Gruppe zusammen zu stellen. Es soll absehbar sein, dass die Studenten sich engagieren, intellektuell und im Zusammenleben. Die Noten spielen eine geringe Rolle, die Studentenkommission kennt die Noten der Kandidaten nicht einmal. Die Studenten leben fast ein Jahr lang zusammen im Kolleg – wie wichtig ist der Gemeinschaftsgedanke? Der war von Gründung des Kollegs an sehr wichtig. Für viele der Studenten ist es eine einschneidende Erfahrung, man lernt hier nicht nur den Stoff der Fächer, sondern auch die Auseinandersetzung im sozialen Miteinander. Wie weit geht die Mitgestaltung der Studenten? Zum einen können sie mit beeinflussen, wer im nächsten Jahr Leibnizianer wird. Zum anderen können sie Kurse und Themen vorschlagen und Referenten zu bestimmten Themen einladen. Von dieser Möglichkeit machen sie rege Gebrauch, zum Beispiel hatten wir schon Joachim Gauck oder Ignaz Bubis hier. Das dritte Trimester planen Dozenten und Studenten sogar vollständig gemeinsam. Was für Fächer werden am Kolleg unterrichtet? Grundsätzlich unterscheiden wir drei Sektionen, die Rechts- und Sozialwissenschaften, die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften. Außerdem gibt es viele Arbeitsgruppen, die den musischen und kreativen Bereich abdecken. Bei den Rechts- und Sozialwissenschaften ist ein Fach zum Beispiel Jura, dann suchen sich die Studenten das Thema Arbeitsrecht aus, lernen einen Fachjuristen kennen, erleben wie er arbeitet und vorgeht, gehen mit ihm ans Gericht und sprechen Fälle durch. Oder in Politik wählen die Studenten als Thema die politische Kultur der BRD, lesen dazu theoretische Texte und sprechen praktische Beispiele durch. In den künstlerischen Arbeitsgruppen werden zum Beispiel Fotografie, kreatives Schreiben, Theater oder Musik angeboten, dazu gibt es am Ende des Jahres Ausstellungen, Lesungen und Ähnliches. Wie stellt der einzelne Student seinen eigenen Stundenplan zusammen? Es gibt pro Semester gut 40 Kurse, die von Uni-Dozenten von Montag morgens um acht Uhr bis Freitag abend um 18 Uhr angeboten werden. Aus diesen müssen die Studenten mindestens zwölf Wochenstunden, das sind meist sechs Kurse, auswählen, mit denen sie alle drei Sektionen mindestens einmal abdecken. Die meisten Studenten wählen allerdings sehr viel mehr Kurse. Der Stundenplan wird mit uns durchgesprochen. Wir haben bewusst keine Obergrenze an Kursen gesetzt, damit die Studenten selber lernen, wann es zuviel ist und ihre eigenen Kräfte einschätzen lernen. Das hört sich alles an, als ginge es am Leibniz-Kolleg eher ums „wie“ als ums „was“? Ja, tatsächlich ist das „was“ eher paradigmatisch gedacht. Es geht hauptsächlich darum, was für Fragen werden gestellt, mit welchen Instrumenten und Methoden wird gearbeitet. Das kann man in zehn Monaten besser vermitteln, als einen kleinen Physiker auszubilden. Die Studiengebühren sind mit 4100 Euro nicht wenig. Wie kann sich das ein normaler Jugendlicher leisten? Es gibt am Leibniz-Kolleg eine Art Stipendium. Das heißt, die Schüler bekommen einen Nachlass auf die Studiengebühren, abhängig vom Gehalt ihrer Eltern oder von ihrem eigenen Einkommen. Welche Pflichten haben die Studenten in ihren Kursen? Obwohl es keine Noten gibt, sind die Schüler sehr aktiv. Jedes Trimester schreiben sie eine kleine wissenschaftliche Arbeit, die von den Dozenten betreut wird. Das Verhältnis zwischen Studenten und Dozenten ist sicher ein anderes als an der Uni? Ja, denn obwohl die Dozenten alle von der Uni kommen, sind sie relativ jung. Zumindest jung genug, um die Anfängerprobleme zu kennen. Hier herrscht ein informelles Klima, meist duzt man sich gegenseitig und die Dozenten laden auch öfter die Studenten ein, mit ihnen etwas außerhalb der Kurse zu unternehmen. Werden Sie als Leiter auch geduzt von den Studenten? Bisher war das schon so, aber ich ergraue langsam, und da ist die Ehrfurcht bei manchen Studenten zu groß. Die sollen das so machen, wie sie sich wohl fühlen. +++ Foto: ddp

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