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Die Geschichte vom Russenpokal und der seltsamsten Fußball-Liga der Welt

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Als Anne endgültig genug hatte, von den Aufsätzen und Referaten und allem anderen, was die Uni langwierig und langweilig macht, da erzählte Leo ihr von den Russen. Sie frühstückten gerade. Es war Januar, einer dieser Tage, die voll von Ideen, voll von Träumen sind. Leo erzählte von den Russen rund um Alex Garzón, genannt der Clown, der sich wie ein Pirat die Haare mit einem Tuch hochbindet und die vielleicht seltsamste Fußball-Liga der Welt anführt - die Liga der Bauarbeiter von Bogotá, die „rusos“ gerufen werden, Russen. Leo erzählte von der Gewohnheit dieser Russen, jeden Tag zur Mittagspause Fußball zu spielen, auf den Straßen vor ihren Baustellen. Anne Rethmann, Studentin aus München und gerade zum Austausch in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, sagte: „Lass uns darüber einen Film drehen.“ Da lachte Leo, doch dann war es plötzlich ernst.

Heute, sechs Monate später, sind sich Anne und ihr Freund Leo nicht sicher, was ihnen mehr als Wunder erscheint: dass ihr Film „Der Russenpokal“ fertig geworden ist oder dass er jetzt, zur Weltmeisterschaft, im Münchner Stadtmuseum gezeigt wird, in der Ausstellung „Fußball: Ein Spiel, viele Welten“ – als Beweis, dass Fußball mehr ist als das, was Männer in goldenen Schuhen auf gestriegelten Rasen aufführen. „Das war erst nur eine Schnapsidee", sagt Anne Rethmann im Wohnzimmer ihrer WG in Bogotá, an deren Wänden in langer Reihe ihre Helden hängen, Ché Guevara, Bob Marley, Martin Luther King. Hier diskutieren Anne und Leo mit ihren zwei Mitbewohnern über die Welt und manchmal sogar Gott, dann geht es um Gerechtigkeit, Globalisierung und Neoliberalismus. Aber an jenem Tag im Januar ging es allein um die Idee. Die kam gerade recht. Anne, 23, die in München Ethnologie studiert, hatte genug von den Theorien, sie wollte etwas handfestes machen, und ihr Freund Leo Rúa, 22, Filmstudent in Bogotá, wollte schon länger einen neuen Film drehen. Sie beschlossen, zu den Russen zu gehen. „Wir wollten ein anderes Bild von Kolumbien zeigen, als die meisten Menschen haben, ein schöneres Bild“, sagt Anne. „Wir wollten das harte Leben der Bauarbeiter, eben der Russen zeigen und ihre Freude am Fußball“, sagt Leo. Dann diskutieren die zwei, und es klingt, als ob der Film alles zugleich sein sollte, ein Dokumentarfilm über Fußball als Sport, Protestform, Spiegel der Gesellschaft, der auch die Augen für ein anderes Kolumbien als das von Krieg, Guerilla und Paramilitärs öffnen sollte. In ihrem Exposé schrieben Anne und Leo schließlich, der Film zeige Fußball ohne Status- und Geldfragen, ohne soziale Schranken und Grenzen. Sicher ist : Sie hatten Großes vor. Dann begannen die Probleme. „Niemand hat geglaubt, dass wir es schaffen, den Film wirklich zu drehen“, sagt Anne. Sie hatten kein Geld, keine Kamera, keine Unterstützung. Sie hatten nur eine Idee. Damit gingen die beiden zu den Russen, in den Norden Bogotás, wo sie am Park „El Virrey“ neue Hochhäuser bauen. Dort ist Alex Garzón der Mann für die Mischungen, wie sie den Arbeiter an der Betonmischmaschine nennen. Garzón und seine Russen hörten sich die Idee an. Dann sagten sie zu. Anne rief darauf ihre Eltern an und ihren Uni-Dozenten, bat um Hilfe, Leo suchte eine Kamera und jemanden, der bereit war, sie herzuleihen. Es klappte. Sie begannen zu drehen. Es war die schönste Zeit. Die Russen ließen sie in ihr Leben. Kicken mit Gummistiefeln Die Bauarbeiter, die fast alle aus den armen Vierteln Bogotás im Süden stammen, fahren an Morgen, die noch halbe Nächte sind, mit dem Fahrrad quer durch die Sieben-Millionen-Stadt, um sich das Geld für den Bus zu sparen, arbeiten hart und schnell bis Mittag und dann beginnt, was sie „die einzige Pause der Woche“ nennen – die Zeit für die Spiele. Anne und Leo filmten die Bauarbeiter, wie sie Schlag Zwölf in den Wellblechverschlag strömten, der ihre Küche ist, sie filmten, wie die Russen, schon über Spiele und Spieler witzelnd, ihr Essen hinunterschlangen – und wie sie dann, von Mörtel und Zement verdreckt, auf der Straße vor ihrer Baustelle Fußball spielten. In Gummistiefeln. Manche jonglieren den Ball mit Gummistiefeln besser als andere Spieler mit goldenen Stollenschuhen. Und sie filmten Alex Garzón und seinen Freund Eduardo, die jedes Spiel ihrer Kollegen kommentieren wie eine große Partie im Fernsehen – eingeschlossen dem unendlich langgezogenen, jaulenden Ruf „Goooooool“, mit dem in Südamerika ein Tor bejubelt wird. Das alles filmten Anne und Leo, und als sie dann die Kamera zurückbrachten, gab die Produktionsfirma, die sie ihnen geliehen hatte, die Aufnahmekassetten nicht heraus. Es sei jetzt ihr Projekt, sagten sie, vielen Dank auch für das schöne Material. Sechs Stunden Film waren fort. Anne und Leo standen kurz davor, ihre Idee Idee sein zu lassen und einfach alles hinzuwerfen. Sie hatten nur noch eine Woche, dann musste der bereits in München angekündigte Film in Deutschland sein. Was dann geschah, war für Anne „wie ein Wunder.“ Sie überzeugten eine andere Produktionsfirma, ihnen eine Kamera zu leihen, sie schafften es, irgendwie, binnen drei Tagen das meiste Material neu zu drehen, es dann schnell zu schneiden, zu untertiteln und sogar noch mit eigenem Soundtrack zu unterlegen. Sie schliefen nicht viel in dieser Zeit. Doch sie wurden rechtzeitig fertig. Aus ihrer Idee war tatsächlich ein Film geworden, zwölf Minuten lang. Es ist nicht der große, alles auf der Welt erklärende Film geworden, den sie in ihren ersten Plänen vor sich sahen. „Es ist nur ein Fußballfilm“, sagt Leo, „aber doch irgendwie mehr. Er zeigt die Leidenschaft für Fußball, weit weg von der Weltmeisterschaft und plötzlich ist der Fußball wie ein Fenster, durch das man die Welt dieser Bauarbeiter sehen kann.“ Mehr, sagt er, hätten Anne und er eigentlich gar nicht gewollt. Der Film wird in der Ausstellung „Fußball – Ein Spiel, viele Welten“ gezeigt, die noch bis zum 3. September im Münchner Stadtmuseum zu sehen ist.

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