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Vorsprung an den Technics - wie vom Aussterben bedrohte Musik gerettet wird

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Chris Malins versteht die Welt nicht so recht und ein bisschen kann man es verstehen. Man muss sich das so vorstellen: Da sammelt einer seit zwanzig Jahren seltene Schallplatten, verbringt Wochenenden auf Sammlerbörsen, Flohmärkten und in Second-Hand-Schallplattenläden, um die wenigen Easy-Groove-Platten aufzutreiben, die es irgendwo gibt – und irgendwann, recht zufällig, interessiert sich plötzlich die Welt für ihn und seine kleine Internetseite. Plötzlich will der Guardian ein Interview und selbst aus Deutschland kommen Anfragen. Es macht alles keinen Sinn.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auch eine Fu8ndgrube für obskure Plarttencover - mal mit, mal ohne Bikini: Die Website von Chris Mailns (Screenshot: vinylvulture.co.uk) Nichts hat sich geändert, nicht die Musik, nicht die Preise, die bei derart unbeachteten Veröffentlichungen oftmals noch bei 50 Pence liegen und eigentlich auch nicht die Technik: Man tauscht sich im Freundes- und Bekanntenkreis aus, reicht Tapes oder CDs herum und handelt mit Platten und Wissen. Seit Jahren. Nur ist der Treffpunkt der Szene seit geraumer Zeit das Internet. Zu allererst ist Vinyl Vulture, die Homepage, die Chris Malins betreibt, ein Onlinemagazin, das Obskurem und Seltenem, Vergessenem und dennoch Hörenswertem eine Plattform bietet. Statt mit dem Wissen um die Musik hinterm Berg zu halten, sortieren und empfehlen Malins und die Seinen, was ihnen bei ihren Streifzügen durch die Second-Hand-Plattenläden und Flohmärkte, beim Stöbern in alten VÖ-Listen und beim Fachsimpeln so über den Weg läuft. Und treten, manchmal, kleine Hypes los. Zum Beispiel diesen: Der nordirische DJ und Produzent David Holmes ist auf der Suche nach Musik für "Oceans Twelve" - und stösst auf Vinyl Vultures auf eine nahezu vergessene Band von vor 30 Jahren namens "Dynastie Crisis" - die so zu einem kleinen, zugegebenermaßen sehr kleinen, Revival kommt. Eine ebenso bizarre wie liebenswürdige Randgeschichte. Im Auge des Wirbelsturms sieht die Welt natürlich wieder einmal ganz anders aus. Und natürlich: Der Austausch von obskurer Musik, das Herumstreunern auf Flohmärkten und in Second-Hand-Plattenläden ist nichts, was eine eigene Meldung wert wäre. Und doch, auch wenn dies weder im Sinne noch die Absicht der Betreibenden ist, hat die bloße Koordination des Musiknerdismus qua Internet dem Betrieb eine andere Dimension gegeben.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Gerade weil illegale Downloadplattformen durch die Verfügbarkeit von Künstlern und Titeln implizite Bestenlisten erstellen, Erfolgreiches um ein Vielfaches verfügbarer machen und Sonderlichkeiten unter dem Berg des Populären verschwinden, gerade deshalb ist die Leistung, dem Obskuren und Abwegigen, dem Unpopulären und Ungeschätzten eine Heimat zu geben nicht hoch genug anzurechnen. Ironisch genug, dass ausgerechnet das Internet, das den CD-Verkäufen der Musikindustrie bis hin zur Existenzfrage zugesetzt hat, den Austausch und Handel mit äußerst seltenen Schallplatten antreibt. Zudem das Quid-pro-Quo, das dem Ganzen zu Grunde liegt, eigentlich gegen jede Vernunft geht: Gerade unter Sammlern, noch mehr unter DJs gilt, dass Wissen Macht und jede Platte ein Vorsprung an den Technics ist. Einerseits. Andererseits, und das ist eine grundsätzliche Erfahrung mit Musik im digitalen Zeitalter, steigt mit der Verfügbarkeit die Gier. Was, wie Chris Malins eingesteht, für die Platten durchaus Teil des Konzeptes ist – dass die höhere Bekanntschaft, die Onlinemagazine samt Foren wie Vinyl Vulture auch das Such- und Kaufverhalten anheizt, ist durchaus so gedacht. Dass aber bei diesen CD-Tauschaktionen mittlerweile über 60 CDs bei jeder Runde an jeden Teilnehmer verschickt werden, erhöht in dem Maße die Beliebigkeit, wie es verhindert, all dem entsprechend Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Dennoch: Man kann sich durchaus Schlimmeres vorstellen, als 60 CDs voller unentdeckter, musikalischer Schätze des kollektiven, kulturellen Gedächtnisses – zum Beispiel, dass all diese Musik unentdeckt bliebe, verborgen und begraben unter einem Berg aus Remakes, One-Hit-Wondern und Zeitgeistblödsinn, der weniger Musik als Produkt ist.

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