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Wurzelsuche zwischen Sao Paulo und Wuppertal

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Zwei Jahre ist es her, Ana Lídia ist zum ersten Mal in Sao Paulo, seit ihre Eltern sie einst adoptierten und nach Wuppertal holten. Sie steht im Aufzug eines Hochhauses, draußen Brasilien, neben ihr Deutschland, ihre Adoptiveltern Barbara und Fritz Gerwinn. Ihr Herz klopft bis zum Hals, sie hat Angst, sie freut sich. Der Aufzug hält im 30. Stock, höher geht nicht, jemand öffnet die Wohnungstüre und aus dem Hintergrund tritt eine Frau mit blondem Haar. Ana Lídias erster Gedanke: „Ich habe eine schöne Mutter“.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Familie Gerwinn, Foto: Dominik Asbach Es gibt sogar Videoaufnahmen von dem Tag, an dem die Polizei in Sao Paulo Ana Lídia ihrer leiblichen Mutter entreißt. Ein Fernsehsender der Stadt berichtete von dem Einsatz, bei dem die Polizisten ein kleines Mädchen aus einer Wohnung im besten Viertel Sao Paolos befreien. Der Autor des Beitrags spricht von Verwahrlosung, der leiblichen Mutter wird das Sorgerecht entzogen. Ana Lídia ist gerade zwei Jahre alt, als sie in ein Heim kommt und später nach Deutschland. Ana Lídia, 19, sitzt jetzt in der Nähe von Wuppertal in einem von Holzbalken durchzogenen Wohnzimmer auf dem Sofa und erzählt. Vater Fritz lehnt im Sessel, Mutter Barbara sitzt auf einem Hocker, der Älteste, Jonas, ist schon ausgezogen, Nachzügler Benno, 10, fläzt neben Ana Lídia. Wurzelsuche und Urmisstrauen Viele Paare wollen Kindern aus armen Ländern eine Zukunft geben und adoptieren deshalb; viel mehr Paare adoptieren aus dem Ausland, weil sie keine Kinder bekommen können und weil in Deutschland auf ein zur Adoption freigegebenes Kind elf Bewerber kommen. Im Jahr 2004, aus dem es die jüngsten Zahlen gibt, sind 631 adoptierte Kinder und Jugendliche durch eine Adoption nach Deutschland gekommen. Gerwinns sind schon Eltern von Jonas, als es so scheint, als könnten sie keine Kinder mehr bekommen. Sie mühen sich, vergeblich, um eine Adoption in Deutschland und finden dann Gefallen an der Idee, Eltern für ein verlassenes Kind aus einem anderen Land zu werden. Wer aus dem Ausland adoptieren will, muss sich an so genannte Vermittlungsstellen wenden und so sprechen Gerwinns mit den Menschen von Eltern für Kinder e.V. (EfK) in Essen (heute Berlin) und durchlaufen eine aufwändige Prüfung. Sie treffen Psychologen und erfahrene Adoptiveltern, sie setzen sich Fragen aus: Können Sie damit umgehen, wenn Ihr Kind eines Tages sagt: „Ihr seid nicht meine richtigen Eltern“? Ana Lídia ist dreizehn, als ihr Mutter Barbara Gerichtsunterlagen in die Hand gibt, mit denen die leibliche Mutter in Brasilien angeklagt wurde. Es geht um Kindesmissbrauch, um den Entzug des Sorgerechts. Gerwinns haben die Unterlagen aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzen lassen und Ana Lídia liest, dass ihre leibliche Mutter ihr nur einmal am Tag zu trinken gab, sie tagelang zu Hause liegen ließ. Die Rede ist von Verwahrlosung. „Ich hätte nicht gedacht, dass Menschen so grausam sein können“, sagt Ana Lídia. Vermutlich ist das, was in den Papieren steht, der Grund dafür, dass sie so spät sprechen lernte, dass sie lange Zeit Blicken auswich und nachts Angst vor Einbrechern und vor Feuer hatte. Sie kann heute noch nicht ohne Licht schlafen. In den Papieren steht aber auch der Grund, aus dem sie zwei Heimaten hat, aus dem die Frage entspringt, die viele Adoptivkinder ergründen wollen: Wer bin ich? Woher? Fachbegriff „Wurzelsuche“. Diese Suche beginnt für viele Adoptivkinder in der Pubertät und oft im Streit, wenn es darum geht, sich und seine Gedanken abzugrenzen. „Es waren nur Kleinigkeiten und dann eskalierte alles“, sagt Vater Fritz. Ana Lídia sagt, der Streit entzündete sich an Banalem, schaukelte sich auf, bis sie dachte: „Meine Eltern sind unfair zu mir, sie haben etwas gegen mich.“ Um was ging es genau? Mutter Barbara blickt zu ihrer Tochter, fragt: „Soll ich es erzählen?“ Ana Lídia scheint den Kopf zu schütteln und sagt dann: „Ich habe sehr, sehr hässliche Dinge gesagt.“ In Erfahrungsberichten adoptierter Kinder ist manchmal von Schreikrämpfen die Rede, in denen Sätze fallen wie „ihr seid nicht meine Eltern“ oder „ich hasse Euch“. In einem Bericht steht, dass es darum gehe, die Eltern zu verletzen, um aus dem Verhalten eine Antwort auf die Frage zu finden: Bin ich hier richtig? Adoptionsforscher sprechen von „Urmisstrauen“, weil das „Nein“ der leiblichen Eltern verletzend und prägend für das weitere Leben sei. Zwar gibt es viele Adoptivkinder, die nicht eher ruhen, bis sie ihre leiblichen Eltern finden. Es gibt aber auch jene, die aus der Vergangenheit nichts mehr hören wollen. Ana Lídias Geschichte ist deswegen nicht exemplarisch, erzählt aber etwas davon, wie es ist, eine Lücke im Leben zu haben und wie es sein kann, sie zu schließen. Als Ana Lídia 17 ist, reist die Familie nach Brasilien in den Urlaub. Vielleicht, nur eine Idee, findet sich ja, interessehalber, das Haus in Sao Paulo, aus dem Ana Lidia im Alter von zwei Jahren befreit wurde, in dem die leibliche Mutter Haushälterin einer reichen Familie war. Es findet sich. Gerwinns fragen den Pförtner an der Einfahrt: Wohnt die Familie noch hier? „Nein.“ Gerwinns erklären, dass Ana Lídia hier wohnte und der Pförtner, darf er eigentlich nicht, gibt die neue Telefonnummer der Familie her. Die Familie fährt ins Hotel, der Vater telefoniert mit der Bekannten von EfK, die bei der Nummer anruft. Ana Lídia schläft auf ihrem Bett, als Benno in das Zimmer stürmt und schreit: „Wir haben deine Mutter!“ Es sei ein Treffen vereinbart. Ana Lídia denkt, Benno nehme sie auf den Arm, aber eine halbe Stunde später sitzen sie im Taxi, lange Fahrt. „Der Stadtplan von Sao Paulo ist so dick“ sagt Ana Lídia und spreizt Daumen und Zeigefinger in Bibeldicke auseinander. Sie erreichen ein Hochhaus, dreißig Stockwerke. „Im Eingang standen griechisch anmutende Säulen“, erinnert sich der Vater. Sie steigen in den Aufzug, die Tür schließt, die Tür öffnet sich zu einer Wohnung, zu einer Terrasse, zu einem Swimming Pool – nicht im Hochhaus, auf dem Hochhaus. Aus dem Hintergrund tritt die brasilianische Mutter. Ana Lídia bemerkt ihre Schönheit und: sie hat dieselben Augenbrauen. Die Mutter ist aufgeregt und erzählt, dass sie am Gericht versucht habe, herauszufinden, was mit Ana Lídia geschehen sei. Die Frau von EfK übersetzt. „Sie dachte, ich sei in der Gosse gelandet“, erzählt Ana Lídia, die sofort nach dem Prozess fragt. Die Mutter gibt vor, sich nicht zu erinnern, bleibt zugeknöpft. Vielleicht will sie verdrängen, denkt Ana Lídia. „Oder sie schämt sich.“ Sie fragt nach ihrem Vater, erfährt aber nur den Vornamen. „Angeblich hat sie alles von ihm vernichtet, aus Enttäuschung darüber, dass er sie wegen mir verlassen hat.“ Die Mutter nennt Ana Lídias Vater nicht „Vater“ sondern „Erzeuger“. Sie umgeht die Vergangenheit und fragt, ob Ana Lídia gern zur Schule gehe? Ana Lídia erzählt von Wuppertal und ihre Mutter wundert sich, dass deutsche Städte so klein sind, Wuppertal, 360 000 Einwohner. Das Gespräch dauert, Mutter und Tochter sitzen im Wohnzimmer. Als es Zeit für den Aufbruch ist, fragt jemand: Ana Lídia, willst Du übernachten? Sie ist erschrocken, misstrauisch, „ich hatte Angst“, erinnert sich Ana Lídia, aber ist es noch die böse Mutter? Jetzt ist es in erster Linie die gefundene Mutter. Sie bleibt. Sie essen gemeinsam paniertes Schnitzel, Reis, Bohnen, sie sitzen jetzt auf der Terrasse und sehen die Lichter von Sao Paulo. Tränen am Flughafen Gerwinns fahren zur gleichen Zeit ins Hotel. Durch Barbara Gerwinns Kopf zucken die Gedanken. Eine Stunde Autofahrt zwischen ihr und ihrer Tochter – Sao Paulo! – würde sie Ana Lídia wieder finden? Hatte sie eben ihre Tochter verloren? Am letzten Tag des Urlaubs machen alle eine Stadtrundfahrt. Vorne im Kleinbus sitzen Gerwinns, hinten Ana Lídia mit ihrer Mutter. Sie trinken gemeinsam Kaffee und nehmen Abschied. Ana Lídia heult am Flughafen so laut, dass der Mann am Check-In kaum die Worte von Vater Gerwinn versteht. „Ich wollte nicht nach Hause fahren, ich hatte doch meine Leute gefunden“, sagt Ana Lídia auf dem Sofa in Wuppertal. Seither haben Mutter und Tochter Kontakt, E-Mail, Übersetzungsassistent portugiesisch, Riesenpaket aus Sao Paulo, Postkarte aus Wuppertal. Ana Lídia blüht im Reden, die Mutter liebt – wie sie selbst! – Pommes mit Mayo. Sie hat die Lücke in ihrer Vergangenheit geschlossen. Diesen Sommer fährt sie wieder nach Brasilien. „Ich muss da unten eine Riesenfamilie haben!“ Vater Gerwinn ist gelassen und meint: „Für sie und für uns ist es eine Bereicherung.“ Ana Lídia sagt: „Ich habe nach diesem Urlaub lange überlegt. Ich weiß jetzt, wo ich leben will.“ Fritz Gerwinn lehnt seinen Kopf in die Sessellehne, Barbara Gerwinn schaut auf. „Hier“, sagt Ana Lídia, sie will in Wuppertal leben. Im August verreist sie allein und wird ihre Mutter nicht nur einen Tag sondern, vier Wochen sehen. Barbara Gerwinn ist merkwürdig zumute. Heute hat Ana Lídia „hier“ gesagt. Wird sie das im September auch noch sagen?

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