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Keine Aufbruchsstimmung in Israel

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Andrea Livnat ist in München aufgewachsen, wo auch der Sitz von Hagalil ist, und hat dort jüdische Geschichte studiert. Über ein Stipendium für ihre Doktorarbeit kam sie nach Israel. Es gefiel ihr, sie lernte ihren Mann kennen und blieb. Für jetzt.de erzählt sie, wie sie die Wahl erlebt hat, warum die Wahlbeteiligung so gering war und in welche Richtung sich die Politik entwickeln wird.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Andrea Livnat „Der Wahltag in Israel ist immer ein kleiner Feiertag. In Deutschland wird ja am Sonntag gewählt. In Israel kann man am Sabbat, dem jüdischen Ruhetag, aber keine Wahlen durchführen. Deshalb muss am Wahltag in Israel keiner arbeiten, man geht in den Park und lässt es sich gut gehen. Ich habe das auch gemacht. Wir sind spazieren gegangen, in Tel Aviv war eine richtige Feierstimmung. Die Leute saßen in den Cafés, ließen sich in der Sonne brutzeln und gingen zwischendrin eben wählen. Wahltage sind also allein deshalb schon etwas besonderes. Abends, nachdem die Wahllokale geschlossen hatten, saßen wir natürlich vor dem Fernseher und sahen uns die Hochrechnungen an. Als ich ins Bett ging, war ich froh, weil es sehr gut aussah für eine starke Mitte-Links-Regierung. Als ich am Morgen aufgewacht bin, war dann auf einmal die ultra-orthodoxe Schas-Partei die drittstärkste Kraft. Da war ich weniger erfreut, weil sie sehr konservativ ist und schon in den Koalitionen Ende der neunziger Jahre regelmäßig das Zünglein an der Waage spielte, bis Scharon sie von 2002 an gezielt umging. Nachdem Ariel Scharon ins Koma gefallen ist und dann auch noch Hamas die palästinensischen Wahlen gewonnen hat, dachte ich eigentlich, dass es eine besondere Wahl werden würde. War sie im Endeffekt auch, aber leider deshalb, weil das Interesse der Bevölkerung an der Wahl fast verschwunden ist. Die Wahlbeteiligung war extrem niedrig und auch das Ergebnis ist sehr seltsam. Zum Beispiel dass die neugegründete Seniorenpartei auf Anhieb in die Knesset, das israelische Parlament, gekommen ist und sogar sieben Sitze errungen hat. Das war sehr seltsam, die im Fernsehen zu sehen. Denn das ist wirklich ein Club von Omas und Opas, die sich so über ihr Wahlergebnis gefreut haben, dass sie das Tanzen anfingen. Der rechts-konservative Likud, aus dem Scharon ausgetreten ist, um die neue Kadima-Partei zu gründen, hat katastrophal abgeschnitten. Das zeigt, dass das Thema Sicherheit diesmal alleine nicht ausreichte, um Wähler zu mobilisieren, aber auch die Kadima, die seit Scharon im Koma liegt von Ministerpräsident Ehud Olmert geführt wird, hat weniger gewonnen als erwartet. Die Enttäuschung über die großen Parteien offensichtlich stark. Es gibt kein vergleichbares links und rechts wie in Deutschland, Politiker sind in diesem Wahlkampf plötzlich in andere Parteien gewechselt, die Kadima ist eine seltsame Mischung aus Arbeitspartei und Likud und alles ist so undefinierbar. Dass jetzt plötzlich sieben Rentner, die vorher mit Politik nichts am Hut hatten, im Parlament sitzen, ist ein Zeichen von Protest gegenüber den etablierten Parteien. Es zeigt aber auch, dass vor allem sozialpolitische Themen wichtig waren. Die Seniorenpartei hat sich vor allem für stabile Renten eingesetzt. Auch der neue Chef der Arbeitspartei, Amir Perez, hat seine Partei wieder stärker an Wirtschafts- und Sozialfragen ausgerichtet. Er hat eine sozialistische Linie vertreten und den Kampf gegen die Armut und für bessere Arbeitsbedingungen propagiert. Der Bedarf ist natürlich da: die wirtschaftliche und soziale Situation ist in Israel seit Jahren sehr angespannt und mittlerweile lebt hier jedes dritte Kind unter der Armutsgrenze. Das sind die Themen, die eigentlich bewegen sollten und die politische Lösungen brauchen. Nicht nur das, was an den Grenzen passiert, obwohl das natürlich auch wichtig ist. Ob die neue Regierung die Lage verbessern kann, weiß ich nicht. Die Koalition wird sehr schwierig werden, denn Kadima und Arbeitspartei haben keine Mehrheit und müssen sich deshalb entweder mit der linken Partei Meretz und den arabischen Parteien zusammentun. Das würde ich mir zwar wünschen, wird aber nicht eintreten. Dann bleibt nur eine Koalition mit den Religiösen oder der russischen Partei Israel Beiteinu übrig, die auch sehr konservativ sind, einen Bevölkerungs- und Gebietsaustausch fordern und letztlich wollen, dass alle Araber aus Israel verschwinden. Dann geht wieder das Gerangel um Gelder los und bei jeder wichtigen Abstimmung wird die Koalition auf der Kante stehen. So frohgestimmt wie ich am Dienstagabend noch war, so ernüchtert war ich am Mittwochmorgen. Auch in Bezug auf den Konflikt mit den Palästinensern wird es keine großen Fortschritte geben. Ministerpräsident Ehud Olmert wird den von Scharon begonnenen Weg wohl weitergehen. Der vor der Wahl angekündigte einseitige Rückzug aus dem Westjordanland wird aber wesentlich komplizierter als in Gaza: Es gibt dort sehr große Siedlungsblöcke, die man sicher nicht räumen wird, weil das richtige Städte sind. Da müssten sehr pragmatische Lösungen gefunden werden, der Austausch von Gebieten etwa, aber schon der Rückzug aus Gaza, wo es viel unkomplizierter war, hat wahnsinnige politische Debatten nach sich gezogen. Es hängt natürlich auch davon ab, wie es mit Hamas weitergeht. Manche sagen, dass es genauso werden wird wie einst mit der PLO und dass Hamas langsam zahmer wird, andere sagen, das wird auf keinen Fall passieren. Jedenfalls wird es sehr lange dauern und diese Zeit haben eigentlich weder wir noch die Palästinenser. Wenn kein Abkommen mit den Palästinensern möglich ist, muss man deshalb über den einseitigen Abzug natürlich nachdenken, aber ich sehe das nicht so richtig kommen. Ich würde mir sehr wünschen, dass man mit der Hamas spricht. Denn in dem Moment, in dem man mit jemandem spricht, nimmt man dem Gegner schon mal den Wind aus den Segeln, egal ob das dann irgendwohin führt. Gespräche sind einfach der erste und wichtigste Schritt und ich hoffe, dass diese Regierung den Mut dazu aufbringt. Das wünsche ich mir, denn die allgemeine politische Situation hier ist oft bedrückend. So schön es hier ist, manchmal fühlt man sich wie in einem Käfig. Israel ist nicht besonders groß und ich kann wegen der Gefahr vor Anschlägen nicht einfach in den Sinai fahren. Nicht so wie in München, wo man übers Wochenende spontan nach Italien fahren kann. Das ist ein tolles Freiheitsgefühl.“

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