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Gone

Text: lilluvya
Er sitzt oft an seinem Fenster. Das große Fenster. Das hat ihm sein Dad einbaun lassen als er geboren wurde. Er hat gesagt, das brauchen Kinder. Viel Licht. „Sonst werden die doch alle depressiv.“ hatte er damal gescherzt. Und heute, da ist er 16, da sitzt er dort so oft. Tag für Tag. Nimmt er sich Zeit eine Auszeit. Dann nimmt er ihr Bild in die Hand. Das steht auf seinem Fensterbrett und betrachtet sie. Und wenn er es nicht mehr aushält, nicht mehr den Blick halten kann auf ihr, dann wendet er schnell den Kopf und blickt nach außen. Fixiert einen Punkt und versucht sich auf den zu konzentrieren. Das schafft er aber nicht oft. Meist muss er dann an sie denken. An Alltagssituationen mit ihr. Wenn sie zusammen nach der Schule im Sommer in den Park gegangen sind. Ihr Lachen. Und ihre Augen. Die Augen die ihm mehr sagen konnten als so viele Worte. An einen warmen tag im Sommer, da kann er sich noch gut dran erinnern. Das Licht kam stoßweise durch das Baumkronendach über ihnen. Es war sehr warm und sie trug ein beiges Top und einen bunten Wickelrock. Der fiel ihr immer so schön um die Beine. Und damals gab sie ihm einen Kuss. Nur einen kurzen. Nur einen kleinen. Weil sie ihn so sehr lieb hatte.

Und wenn er dann an das denkt, dann fließen ihm die Tränen über die Wangen. Und er dachte das vergeht wieder, irgendwann. Aber es lässt ihn nicht los. Und die Bäume, die die da vor seinem Fenster stehen, die lachen ihn dann immer so höhnisch aus. Und manchmal weinen sie auch mit ihm. Dickflüssiges klebriges Harz, das an der Rinde haftet, wie ihr Gesicht vor seinem inneren Auge. Er schwankt zwischen Trauer, Verzweiflung und Hass und Hoffnung. Trauer um sie. Es schien ihn zu zerreisen. Eine Woche lang kam er aus dem Tränenfluss nicht heraus. Und er war nicht bereit Hilfe anzunehmen. Vorerst. Und er schrie: „Sieht es keiner?“und flüsternd fügte er hinzu: „Der Vogel dort, er saß dort immer, warum musste er sterben?“ Die Verzweiflung kam, wenn er sich fragte was aus ihm werden sollte ohne ihr. Und er schrie: „Will es keiner sehen?“ und flüsternd fügte er hinzu: Mein Leben wird wie eine kahle Wand. Ohne Bilder. Ohne Farbe. Weiß, groß, kahl, kalt.“ Und der Hass, wenn er sich fragte: WARUM? Weshalb musste das sein“ und flüsternd fügte er hinzu: „Früher hat man Menschen umgebracht die man hasste. Wen bringt man um wenn man nicht weiß, wen man hassen soll?“Und die Hoffnung, wenn er an Gott denkt, wenn er zu ihm betet: Sei bei mir! Und flüsternd spricht er zu ihm: Sie wartet, das weiß ich, das spür ich.

Wenn er im Auto saß, mit seiner Mutter, dann hat er immer ganz stark nach rechts geschaut. Er wollte seine Mutter nicht ansehen. Irgendwann bekam er oft einen Krampf im Nacken, der machte ihm nichts aus. Hauptsache es kann ihm niemand ins Gesicht sehen.

Damals, da waren es warme Tage. Und er wurde so unglaublich ruhig. Seine Mutter dachte immer sie sei alleine im Haus. Und dann hörte sie so oft die Haustüre zufallen. Und sie wusste, dass er wieder gegangen war. Zu ihr. Zu ihrem Grab. Er saß dann dort. So lange. Stunden. Und er sprach zu ihr. Anfangs unter Tränen. Und manchmal hörte man ihn wimmern. Wenn ihn das von innen begann zu zerfressen. Dann sackte er oft in sich zusammen. Dann war er einfach nur da. Ein Fleck. Der von Schmerz zerfressen wird. Wogegen es keine Medizin gibt. Da saß er. In sich zusammengesunken. Wimmernd. Weinend. Vor ihrem Grab. Er lag ihr zu Füßen. Und er hätte alles getan sie wieder zurück zu haben. Er fand nie eine Erklärung dafür. Eine Erklärung warum sie gehen musste.

Stunden später ging er dann wieder. Und man hörte nur die Haustüre zufallen. Dann war er schon wieder in seinem Zimmer. Lautlos. Bedacht. Ganz ruhig. Nur manchmal, da zerriss ein Schrei die Stille. Ein Schmerzensschrei. Manchmal muss das alles raus, eben.

Und einmal rief ihm seine Mutter hinter her: „Geh heute nicht. Bleib zu Hause. Bitte. Nur heute. Du wirst dich erkälten.“ Und er sah sie nur lange an. Ganz tief sah er sie an aus seinen schmerzgetrübten Augen. Ein Blick der sprach von Hoffnung, Abfindung und Trauer. Und sie wusste, es müsse Zeit vergehen. Der Regen der lief ihm das Gesicht hinuter. Er durchdrang ihn überall. Und zitternd saß er vor ihrem Grab. Den glasigen Blickauf den Himmer gerichtet. Manchmal da fielen Regentropfen in sein Auge. Der dann seinen Blick verschleierte. Und alles wirkte so verzerrt. So wie seine Sinne alles wahrnahmen. Verzerrt. Das war gar nicht wirklich. Er lief blind durch die Straßen. Er bekam nichts mit. Manchmal aber da schaute er auf. Kurz. In ihm entflammte Hoffnung. die sich nie bestätigte. Er sah sie. In so vielen Mädchen und Frauen. Einen kurzen Moment lang. Und auf den zweiten Blick erkannte er sofort, wie töricht er war. Sie war einzigartig. Sie war fantastisch. Sie war alles für ihn. Niemand würde sie ersetzen können. Er würde sein ganzes Leben lang vergeblich auf der Suche nach einem Mädchen sein, dass ihre Lücken füllen wird. Die riese Lücken die sie hinterlassen hat.

Und heute läuft er an ihrem Grab vorbei. Tag für tag. Wenn er auf dem Weg zur Schule ist. Er wendet dann den Kopf und sieht das Grab. Solange schaut er auf das Grab bis er den Kopf nicht mehr weiter drehen kann. Heute steht er aber fest. Heute hat er das verarbeitet. Doch wenn er das Grab sieht durchfährt es ihn kurz. Kurz erzittert der Grundstein in ihm. An dem er sich festhält. Die ganze Zeit. Er sitzt tief in ihm. Sein Glaube. Sein unglaublich starker Glaube. Sein Glaube an Gott. Sein Glaube daran, sie sei dort gut aufgehoben bei ihm. Auch wenn er weiß, dass er sie lieber bei sich hätte. In Afrika da beten die Mütter für verstorbene Kinder mit klagendem Wimmern und Schreien. Sie beten, dass ihre Verstorbenen genug zu Essen bekommen, dort wo sie sind. Er wünscht sich, dass sie glücklich ist. Dort.

Wenn ein Mensch stirbt, dem man sehr nahe stand, dann spult sich das alles nicheinmal ab. Im Kopf. Vor dem inneren Auge. Ein Rückblick. Freundschaftsrückblcik, Und dann sieht man was man besser gemacht hätte. Hinterher. Da ist man eben immer schlauer.







für Hofi


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